Im Blut vereint
steile Anstieg hatte gutgetan. Jetzt wurde der Hang flacher. Ethan behielt sein Tempo bei und lief ohne Pause weiter.
»Randall Barrett.« Während er sich automatisch meldete, fragte er sich, wer in aller Welt ihn so früh am Sonntagmorgen anrief – noch dazu in seinem Büro.
»Randall, hier ist Richterin Carson.« Ihr Tonfall war harsch. Sonst wies nichts darauf hin, was in ihr vorging, aber Randall wusste die Zeichen zu deuten. Sie war wütend. Und wenn Richterin Hope Carson wütend war, stand eine Explosion vom Ausmaß einer Atombombe bevor. Das hatte er vor achtzehn Jahren auf ziemlich unangenehme Weise herausgefunden. Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und überlegte fieberhaft, wie er die Situation entschärfen konnte. Zumal sie sich mit ihrem offiziellen Titel gemeldet hatte.
»Euer Ehren, was kann ich für Sie tun?« Er versuchte sein Unbehagen zu unterdrücken. Schließlich verdiente sie sein Mitgefühl. Die Beerdigung gestern war erschütternd gewesen. Er hatte immer wieder daran denken müssen, während er in seinem Büro saß und liegen gebliebene Arbeit erledigte wie an jedem Sonntagmorgen. Wer von den Müttern und Vätern dort in der Kirche hatte wohl nicht an die eigenen Kinder gedacht. Ausnahmsweise einmal war er froh, dass sein Kind bei dessen Mutter in Toronto lebte.
»Du meinst wohl: Was kannst du mir sonst noch antun?«, fuhr sie ihn erbittert an.
»Ich habe Ihnen, ich habe dir versprochen, der Sache nachzugehen, und das habe ich getan.«
»Und was hast du herausgefunden? Dass meine Schwiegermutter im Recht war?«
Er schloss die Augen. Ungebeten und ungewollt hatte er ein Bild von Hope Carson vor Augen. Nicht, wie sie jetzt als Richterin aussah, im schwarzen Kostüm, dem streng geschnittenen, von grauen Strähnen durchzogenen dunklen Haar und den Falten zwischen den kräftigen Augenbrauen. Nein, er sah sie wie bei ihrer ersten Begegnung vor achtzehn Jahren, als sie im wehenden roten Wollmantel das Gebäude der juristischen Fakultät betreten und dabei lachend mit einer Freundin geplaudert hatte. Durch die Gläser ihrer Schildpattbrille hatte sie ihn mit glühendem Blick angeschaut. Hungrig. Aus gelbbraunen Augen, die vor Intelligenz strahlten. Sie war ein Tiger.
Tiger, Tiger, Funken sprühend …
Drei Monate lang gingen sie miteinander aus. Er bekam ständig ihre bissigen Bemerkungen zu hören, über die Professoren, über ihre Freunde, seine Freunde und auch über ihn selbst. Doch sie konnte ebenso gut einstecken wie austeilen. Und er verliebte sich in diese Stärke, diese Kaltschnäuzigkeit, diese Wildheit.
Aber sie war nicht an einer festen Beziehung interessiert. Und schon gar nicht an einer mit ihm. Weil sie ihn nicht dominieren konnte. Ebenso wenig wie er sie. Letztlich ähnelten sie einander zu sehr. Es gab kein Geben und Nehmen. Nur Angriff, Gegenangriff, Treffer und Todesstoß.
Danach hatte er die ganze Geschichte sehr gründlich verdrängt. Doch nun kam alles wieder hoch. Zugleich meldete sich ein Gedanke, der ihm gar nicht gefiel: Sie waren beide seit Kurzem wieder Singles.
Warum rief sie an?
»Hast du dir die Akte deiner Mitarbeiterin angeschaut?« Ihre Stimme rief ihn schroff in die Gegenwart zurück. Die Worte »deiner Mitarbeiterin« hatten einen geradezu verächtlichen Unterton.
Er runzelte die Stirn. »Ja. Sie hat sich korrekt verhalten.«
»Bist du sicher?«
»Ja.« Er erinnerte sich an Kates Gesichtsausdruck, als sie ihm die Akte gegeben hatte. In ihren so erstaunlich klaren Augen hatte er Ärger, Trotz und Feindseligkeit aufblitzen sehen. Und noch etwas anderes, das er nicht einordnen konnte. Anscheinend hatte John Lyons recht, was sie betraf. Sie war aus härterem Holz geschnitzt, als er zunächst vermutet hatte.
Hope mochte vielleicht nicht erkennen, dass ihre Erzfeindin viel mit ihr gemeinsam hatte, aber er sah es durchaus.
»Hör zu, Kate hat nur getan, was von ihr erwartet wird.«
»Und du auch?«
»Natürlich.«
»Warum zum Teufel hast du meine Schwiegermutter dann an eine neue Mitarbeiterin verwiesen, anstatt selbst mit ihr zu sprechen?« Randall wusste genau, weshalb Hope ihm das vorhielt: Da er Marian zu jemand anderem geschickt hatte, gab es nun handschriftliche Notizen zu Marians Sorgen um Lisa und zu Hopes Versäumnissen. Hätte Randall hingegen selbst mit Marian gesprochen, hätte er sofort die Verbindung zwischen ihr und Hope erkannt, und die Notizen wären kürzer und weniger detailliert ausgefallen.
Seine Miene verfinsterte
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