Im Blutkreis - Roman
schwankte plötzlich und zerbröckelte um Nathan herum.
Seine Kindheit … Ebendieses Gesicht, nur jünger, hatte ihn in der Lucien-Weinberg-Klinik besucht.
Er erinnerte sich an diesen Mann…
Vor ihm stand Abbas Morquos, der Gründer von One Earth.
Die Stunden des Nahkampfs, die Abhärtung, der Umgang mit den Waffen, der Geruch des Cordits, vermischt mit dem Staub der Wüste… diese kräftigen, mit schwarzem Blut beschmierten Hände über den klaffenden Brustkörben …
Er war Michael, der erste der sieben Engel, derjenige, der den Drachen getötet hatte.
Diese kleinen Augen mit ihren tiefen, schwarzen Ringen … Die stählernen Wogen des tobenden Meeres, ein Lächeln auf der Brücke des Eisbrechers, die durchdringende Stimme aus den Lautsprechern … Der Mann der Pole Explorer , der zusammen mit de Wilde als vermisst gemeldet worden war …
Jacques Malignon, der Leiter der Mission HCDO2.
Die massige Gestalt, die in der Intensivstation an seinem Bett gewacht hatte, die weiten, unberührten Schneeflächen, der merkwürdige Besucher in Hammerfest …
Strøm, der falsche Psychiater.
Morquos, Michael, Malignon, Strøm waren ein und derselbe Mann…
Der Hüne war langsam aufgestanden. Schritt für Schritt kam er auf Nathan zu.
»Was hast du gemacht, Gafhaïl … Warum hast du die Deinen verraten?«, fragte er ruhig.
Nathan versuchte, in den Augen des Mönchs zu lesen, aber er begegnete nur einem leeren Blick, kalten Augenhöhlen, die nicht die geringste Gefühlsregung erkennen ließen.
»Ich habe… das Gedächtnis verloren, der Unfall im Eis… Ich erinnere mich nicht. Nach und nach kehren Bilder zurück …«
»Ich habe diese absurde Geschichte niemals geglaubt.«
»Du warst da, Michael. Du weißt, in welchem Zustand ich war. Wir haben in Hammerfest miteinander gesprochen.«
»Das war ein Täuschungsmanöver… du hast deine Rolle wunderbar gespielt.«
»Ich war aufrichtig.«
»Immerhin hast du hierher gefunden.«
»Alle Brücken waren abgebrochen, ich habe alle Hinweise verfolgt, einen nach dem andern, die verstümmelten Körper in Spitzbergen entdeckt, das Labor im Camp von Katalé, den Tod meiner Eltern, den von Casarès … Ich habe auch das Manuskript von Elias de Tanouarn… Ich habe die Wahrheit über unsere ungeheuerlichen Verbrechen herausgefunden …«
»Unsere Verbrechen… Weißt du überhaupt, wovon du sprichst?«
»Ich …«
»Warum bist du zurückgekommen?«
»Ich muss es wissen… Wer ist Gafhaïl, warum bin ich zu einem Monster geworden? Rede, danach kannst du mit mir machen, was du willst.«
Michael beobachtete ihn, als versuchte er einzuschätzen, wie aufrichtig Nathan es tatsächlich meinte.
»Ich muss es wissen… alles, von Anfang an«, flehte Nathan ihn an.
»Den Mord an deinen Eltern, ist es das?«
»Was für einen Mord … Was … was willst du damit sagen?«
Der Mönch schien einen Augenblick überrascht, dann sagte er mit leicht amüsiertem Gesichtsausdruck: »Erinnerst du dich nicht, was an jenem Abend passiert ist?«
Schweigen.
»Ich … Mein Vater hat …«
»Mein armer Junge …«
Nathans Herz bekam Sprünge wie eine Glasmurmel, die auf den Boden geworfen wird.
»REDE, REDE…«
»DU, du allein hast diese Verbrechen begangen. Du hast also sogar das vergessen. Du hast … den Tiger vergessen.«
»Hör auf… du lügst! Mein Vater … mein Vater hat meine Mutter getötet und die Waffe dann gegen sich gerichtet.«
»Das Tigerkind, so nannte Casarès dich in Anspielung auf das Phantasieungeheuer, das immer dann in dir auftauchte, wenn deine Mutter ihre Anfälle hatte oder wenn du dich mit deinen Klassenkameraden geschlagen hast. Du warst zehn, du konntest das Leid nicht ertragen, das sie dir seit dem Tod deiner Schwester zufügte, und deinen Vater, der sich hinter seiner Feigheit verschanzte. Eines Nachts hast du das Schluchzen gehört, immer dieses Schluchzen, das du nicht ertragen konntest. Du bist aufgestanden, du hast das Jagdgewehr geholt, das dein Vater in seinem Zimmer versteckt hatte, und bist ins Wohnzimmer hinuntergegangen. Dort hast du gesehen, wie sie miteinander kämpften. Du hast deine Mutter gerufen, um sie zu warnen, aber als sie sich zu dir umgedreht hat, hast du ihr kaltblütig eine Kugel in den Kopf geschossen. Anschließend wolltest du fliehen. Dein Vater hat versucht, dich einzuholen, er ist gestolpert, und du hast ein zweites Mal geschossen. Die Kugel hat ihn in den Hals getroffen.«
Tränen des Schmerzes
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