Im Blutkreis - Roman
dann fuhr er weiter nach Ekeren. Von dort aus würde er zu den Kais gelangen können. Er fuhr noch etwa zehn Kilometer über endlose Serpentinenstraßen, kam an einem Schild mit der Aufschrift »Multipurpose Port« vorbei und landete auf einem großen Platz mit Kreisverkehr. Flämische und englische Namen waren auf den selbstleuchtenden Schildern des Hafenkomplexes zu lesen: Hansadok, Kanaal Dok, Werde Haven, Churchill Dok, Leopolddok …
Leopolddok.
Das war der Name, den Roubaud am Telefon genannt hatte. Nathan bog nach links und fuhr mit ausgeschalteten Scheinwerfern über eine leere Auffahrt, die von Straßenlaternen gesäumt
wurde, die im Nebel erstickten. Nach einer Kurve erblickte er das fahle Licht des Häuschens der Hafenwache. Er hielt und verbarg seinen Wagen hinter einem Haufen Schrott und ausrangierten Holzpaletten. Die Kühle der Seeluft wurde immer spürbarer. Nathan zog seinen Pullover an, setzte die Mütze auf und steckte die Taschenlampe in seinen Rucksack.
Der Zugang zu den Docks wurde durch einen Doppelzaun verwehrt, der oben und unten mit Knäueln aus scharfem Stacheldraht umwickelt war. Drüberzuklettern war zu gefährlich. Nathan ging in die Hocke und durchtrennte die Maschen des Drahtzauns, um direkt über dem Boden eine Öffnung zu schaffen. Als sie ihm groß genug vorkam, drückte er die Arme an seinen Körper und kroch mit Hilfe der Ellbogen hindurch. Als er auf der anderen Seite war, erhob er sich und ging leise in die Nacht hinein.
Er bewegte sich nahezu lautlos zwischen den Containern vorwärts, wobei er darauf achtete, nicht von den Lichtkegeln erfasst zu werden, die in kurzen Abständen von den Halogentürmen herabstürzten. Nur das Ächzen der Frachter war in der Stille zu hören. Er kam an einem schwindelerregend hohen Hangar vorbei, in dessen Schatten sich zwischen den knallgelben Fenwicks, die dort parkten, Haufen von Seilschlingen und Karabinerhaken türmten. Im Vorbeigehen nahm er eine Eisenstange mit, ging um das Gebäude herum und dann zwischen zwei Blechwänden hindurch. Einen Augenblick später tauchte vor dem dunklen Hintergrund des Himmels und des Wassers der Kai vor ihm auf.
Und da sah er sie.
Dunkelrot und funkelnd. Ein paar Meter vor ihm erhob sich der gewaltige Steven des Schiffs. Er brauchte die Buchstaben auf dem stählernen Bauch nicht zu lesen, um zu begreifen, dass er die Pole Explorer wiedergefunden hatte.
13
»ACCESS STRICTLY PROHIBITED« stand auf einem Schild, das über der Wasserlinie schwankte. Der Eisbrecher war gut und gerne hundertzwanzig Meter lang. Eine gewaltige schwimmende Masse, gespickt mit Signalbrücken und Aufbauten.
Aus der Ferne, im Schatten der Hangars, suchte Nathan das Ungetüm ab, auf der Suche nach einer Möglichkeit, an Bord zu gelangen. Ohne gesehen zu werden, konnte er die meisten Fenster der drei Decks erkennen. Sie waren dunkel. Diejenigen der Brücke ebenfalls. Abgesehen von einem schwachen Licht, das von dort herkam, wo er die Unterkünfte der Mechaniker vermutete, schien die Pole Explorer zu schlafen. Wie er aus Roubauds Telefongespräch wusste, würde die Mannschaft erst am nächsten Morgen kommen, es waren also vermutlich nur ein oder zwei Seeleute an Bord.
Direkt vor ihm peitschte ein Seil die Luft. Es schien an der Steuerbordseite des Stevens festgemacht zu sein und sich einmal um ihn herumzuwickeln, um auf der Kaiseite herabzufallen. Es handelte sich um die Halteleine einer kleinen Reparaturplattform, die aus dem Wasser ragte. Ein zweites Tau verband sie mit dem Kai. Mit ihrer Hilfe würde er gegenüber dem Kanal, geschützt vor den Blicken, an Bord klettern können. Nathan schlich zum Rand des Kais. Ihm blieben nur ein paar Sekunden, um zu handeln.
Geschmeidig ließ er sich an der Kaimauer auf den schwimmenden Ponton hinabgleiten. Anschließend griff er mit einer Hand nach dem Seil, testete es, indem er zweimal kurz und heftig daran zog, und wickelte es dann um sein Bein. Langsam zog er sich an dem Seil hoch. Es kostete ihn enorme Kraft, aber nach ein paar Minuten hatte er fast die Hälfte der Strecke geschafft. Die Leere unter ihm beeindruckte ihn nicht, die zwanzig Meter allerdings, die er noch vor sich hatte, kamen ihm wie
reiner Wahnsinn vor. Er klammerte sich ans Seil und zog wie ein Besessener. Nachdem es ihm anfänglich zu seiner großen Überraschung noch relativ leicht gefallen war, sich hochzuziehen, begann er jetzt seinen Körper zu spüren. Die Muskeln seiner Oberarme brannten, er bekam Krämpfe und
Weitere Kostenlose Bücher