Im Blutkreis - Roman
spürte einen Schmerz in seinen Muskelfasern, der immer bohrender wurde… Nathan verschnaufte einen Augenblick, bevor er seinen Weg nach oben zum Dollbord fortsetzte. Er hatte es fast geschafft … Mit einer Hand klammerte er sich am Rand fest, während er mit der anderen nach einem Halt suchte. Ein Stück Alteisen erlaubte ihm, sich hochzuziehen. Mit letzter Kraft ließ er seinen Körper nach vorn kippen und sank dann ein paar Meter von einer großen Ankerwinde entfernt zusammen.
Keuchend stieg Nathan, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf, die zur Brücke führte. Dort bestand die größte Aussicht zu finden, was er suchte. Die wasserdichte Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Er nahm seine Eisenstange, schob sie in die Verriegelung und drückte kräftig dagegen. Einen Augenblick lang glaubte er, die Stange würde sich verbiegen oder brechen, aber schließlich gab das Vorhängeschloss nach. Er drehte die beiden langen, quietschenden Griffe um die eigene Achse…
Die Brücke war in fahles Mondlicht getaucht. Auf der einen Seite befanden sich die Navigationsinstrumente: Radarschirme, Bordcomputer, GPS – alle ausgeschaltet und durch transparente Plastikplanen geschützt. Auf der anderen Seite öffnete sich ein schmaler Gang, der vermutlich zu den Kabinen der Offiziere führte. Nathan ging ihn entlang. Auch wenn das Schiff keinerlei Erinnerungen in ihm weckte, hatte er doch das Gefühl, sich zurechtzufinden, als habe es sich ihm unauslöschlich eingeprägt.
Ein kleines graviertes Schild auf der Tür der ersten Kabine zeigte an, dass sie dem Zweiten Offizier gehörte. Die nächste
war die des Schiffskapitäns. Nathan drehte den Messingknopf, schlüpfte ins Innere und verriegelte die Tür von innen. Er zündete eine kleine Sturmlaterne an, die den Raum in ein bernsteinfarbenes Licht tauchte.
Das Quartier des Kapitäns bestand aus einem großen Schlafzimmer mit einem einfachen Bett, einem Schrank und einem Waschraum. Am Ende öffnete sich eine schmale Tür auf ein Arbeitszimmer. Nathan setzte sich an den Schreibtisch: ein Viereck aus rotem Holz direkt an der Wand und groß genug, um als Kartentisch zu dienen. Darüber hing ein Regal, auf dem Aktenordner und Seefahrtsbücher standen: ein Almanach, ein Abreißkalender und zwei Bücher über die Navigation im Eis. Zwei Säulen aus Schubladen stützten die Tischplatte. Nathan öffnete eine aufs Geratewohl. Ein Stoß Karteikarten. Die erste trug den Titel: Verzeichnis der Oberflächenströmungen / Barentssee … Er blätterte den Stapel durch… nichts. Die nächste Schublade war die richtige. Sie enthielt das Logbuch des Jahres 2002. Die Offiziere waren verpflichtet, jedes Vorkommnis darin festzuhalten, ohne auch nur ein Detail auszulassen. Es musste also zwangsläufig einen Bericht über die Expedition enthalten. Nathan nahm das in schwarzes Leder gebundene Heft heraus und öffnete es auf der ersten Seite, der zweiten…
Weiß. Die Seiten waren weiß. Das bedeutete, dass man das Buch ausgetauscht hatte. Nathan legte es zurück, fiebrig, und durchsuchte dann sorgfältig die anderen Schubladen: Karten, Füller, Kompasse, Büromaterial – uninteressant. Hier würde er nichts finden.
Es war klar: Roubauds Verhalten war nicht unschuldig. Es war etwas vorgefallen in der Arktis. Etwas so Schwerwiegendes, dass die Verantwortlichen von Hydra das Risiko eingingen, offizielle Dokumente verschwinden zu lassen. Vermutlich würde er mehr Glück haben, wenn er den Rest des Eisbrechers durchsuchte. Es war vielleicht nicht schwer, die Kabine eines
Offiziers zu säubern, aber Nathan hatte immer noch die Hoffnung, dass ein Hinweis, eine Spur ihrer Wachsamkeit entgangen war.
Die Größe des Schiffes war sein Vorteil.
Von oben gesehen ähnelte die Pole Explorer einer von Glühwürmchen bevölkerten Geisterstadt. Deck Nummer drei war menschenleer. Der Wind hatte aufgefrischt, und Nathan konnte jetzt das Plätschern der Schaumkronen gegen den Rumpf hören.
Wo sollte er anfangen?
Die Mannschaftsunterkünfte befanden sich am Heck, das war heikel. Er würde warten, bis die Schiffswache vor dem Fernseher eingeschlafen war oder vor sich hin döste, bevor er sich dorthin begab. Zunächst einmal würde er nacheinander die Frachträume, die Druckkammer und die Werkstätten der Taucher durchsuchen.
Während er zwischen den geschlossenen Luken weiterging und den widerlichen Geruch der mit Benzin überzogenen Pfützen einatmete, erblickte er plötzlich ein paar
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