Im Blutkreis - Roman
anderer gewesen.
Fest entschlossen, die Zeit, die sie ihm schenkte, voll und ganz zu genießen, verdrängte er diese Gedanken und überquerte die Straße.
»Guten Tag, Mademoiselle!«
Rhoda unterdrückte ein leichtes Zusammenzucken, dann erstrahlte ihr Gesicht.
»Du hast dich verspätet …«
»Ein paar Dinge, die ich erledigen musste. Tut mir leid.«
»Das war ein Scherz. Da, schau, alles ist da.«
Am Fuß einer Kastanie erkannte Nathan seine Reisetasche und die Umhängetasche seines Laptops.
Im selben Augenblick schrillte eine Alarmglocke in seinem Bewusstsein. Unauffällig blickte er sich um.
»Bist du sicher, dass dir keiner gefolgt ist?«
»Mehr oder weniger. Ich hab mich auf die Terrasse der Bar gegenüber deiner Wohnung gesetzt. Es war alles ruhig, also bin ich zum Haus gegangen, mit dem Lift in den dritten Stock gefahren und dann zu Fuß bis zu deiner Wohnung. Da das Schloss keine Spuren eines Einbruchs aufwies, bin ich hineingegangen.«
»Perfekt.«
»Ich muss dir trotzdem gestehen, dass du mir mit deinen Geschichten eine Mordsangst eingejagt hast. Ich hab beschlossen, ein Taxi bis zum Boulevard Haussmann zu nehmen, dort bin ich in ein großes Kaufhaus gegangen, das ich durch einen Hinterausgang verlassen habe, und dann bin ich wieder in dasselbe Taxi gestiegen. Den Fahrer hatte ich gebeten, in einer Nebenstraße auf mich zu warten.«
»Du bist ein Wunder. Ohne deine Hilfe hätte ich meine Sachen nie wiederbekommen. Sag mir, wie ich dir danken kann …«
»Das Wunder ist, dass ich dich wiedergefunden habe. Bleib eine Weile bei mir.«
Sie gingen zur Île Saint-Louis, überquerten die Seine und liefen weiter zur Place Maubert, wo sie auf der Terrasse eines vietnamesischen Restaurants ein einfaches und zugleich schmackhaftes Mittagessen miteinander teilten.
Endlich erzählte sie von sich: Sie war 1966 in Jerusalem geboren
worden, als Tochter eines jemenitischen Juden und einer Rumänin; bis zum Alter von zwölf war sie in Israel aufgewachsen, dann in Bukarest. Schließlich war sie in die palästinensischen Gebiete zurückgekehrt, um ihren Militärdienst abzuleisten, weniger aus patriotischen Gefühlen, sondern weil sie diese Abhärtung als notwendig für ihre Lebensplanung erachtete. Anschließend hatte sie in Paris Medizin studiert. 1992, kurz nach dem Sturz von Ceauşescu, war sie von One Earth engagiert worden, um in einer rumänischen psychiatrischen Klinik für Waisenkinder zu arbeiten. Zwei Jahre des Schreckens. Kurz vor Ausbruch des Konflikts in Ruanda war sie nach Kigali gegangen, dann hatte man sie am Tag, nachdem die Blauhelme von den FAR, den ruandischen Truppen, gelyncht worden waren, nach Goma evakuiert. Die beiden folgenden Jahre hatte sie in Ruhengeri im Norden von Ruanda verbracht, in einem anderen Zentrum von One Earth, das sich darum kümmerte, die traumatisierten Kinder der Tutsi und Hutu zu sammeln und zu behandeln. Danach hatte es Tschetschenien, einen Erdrutsch in Kolumbien, die Erdbeben in der Türkei gegeben… Seit zwei Jahren war sie jetzt in Jenin, wo sie sich um palästinensische Kinder kümmerte. Ein Leben ohne Bindungen, zwischen Bürgerkriegen und humanitären Katastrophen, eine Reise zu den Grenzen des menschlichen Schmerzes, der Gewalt und den verletzten Seelen.
Im Laufe der Stunden knüpfte sich ein tiefes Band zwischen ihnen, ein Gefühl, das keiner von ihnen auszusprechen gewagt hätte, aus Angst, es würde zerstört, wenn das Leben wieder seinen normalen Gang gehen würde. Nathan dachte nur noch an diese geschenkte Zeit, die er am liebsten für immer angehalten hätte.
Bald führten ihre Schritte sie ins Hotel zurück.
Als sie im Zimmer waren, öffnete Nathan seine Reisetasche und breitete seine Sachen auf dem Bett aus.
Als Rhoda die großen Umschläge des Krankenhauses von
Hammerfest sah, näherte sie sich und fragte: »Ist das deine Patientenakte ?«
»Ja.«
»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern einen Blick hineinwerfen. Mir ist noch nie ein Fall vorgekommen, der so radikal wie deiner ist, aber ich habe häufig mit Amnesien zu tun. Mich würde interessieren, wie die Psychiaterin, die dich behandelt hat, deinen Fall sieht.«
»Bitte.«
Rhoda setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa, öffnete jeden Umschlag und studierte aufmerksam seinen Inhalt. Fünfzehn Minuten später war sie fertig.
»Na, was denkst du?«, fragte Nathan.
»Es ist so weit alles in Ordnung, aber man merkt, dass diese Lisa Larsen sich nicht auf ihrem eigentlichen
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