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Im Blutkreis - Roman

Im Blutkreis - Roman

Titel: Im Blutkreis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Limes
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ist und den schon Freud in seinen Arbeiten über die Trauer erwähnte. Ein Beispiel: Eines Morgens entgehst du, als du die Straße überquerst, mit knapper Not einem Auto, das mit voller Geschwindigkeit auf dich zurast. Wenn du abends nach Hause kommst, wirst du an diese Situation zurückdenken, du wirst dich fragen, was geschehen wäre, wenn du ein ganz klein wenig schneller gegangen
wärst. Wärst du jetzt tot? Gelähmt? Du wirst das Geschehene noch einmal Revue passieren lassen, und das ist ganz normal. Auf diese Weise wird das Emotionszentrum deines Gehirns das Trauma verarbeiten. Am nächsten Morgen wirst du wieder aus dem Haus gehen, und du wirst erneut die Straße überqueren, ohne Angst, aber deine Wachsamkeit wird zugenommen haben. Eine Weile wirst du dich noch an dieses Auto erinnern, dann wirst du es nach und nach vergessen. Wenn du dagegen einen sehr schlimmen Schock erlebst, etwa einen Autounfall, bei dem Menschen ums Leben kommen, die dir sehr nahe stehen, dann kann diese natürliche Funktion der Selbstheilung unterbrochen werden, und dein Bewusstsein wird dauerhaft erschüttert sein. Selbst wenn der Kranke die Ursache des Traumas kennt, reagieren die Patienten in vielen Fällen mit Unwohlsein oder schrecklichen Angstanfällen auf eine ganz banale Alltagssituation, einen Geruch, ein Geräusch, ohne zu begreifen, was mit ihnen los ist.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Was ich dir zu erklären versuche, ist, dass zahlreiche Kranke die Ursache ihres Traumas nicht kennen, weil sie tief in ihnen vergraben ist, und dass diese neue Methode ihnen die Möglichkeit gibt, sie zu isolieren und einen ganz neuen Blick auf sie zu werfen. Auf diese Weise gelingt es ihnen, sich von ihrem Einfluss zu befreien. Dein Unfall ist vielleicht die Ursache deines Problems, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das nur eine Reaktion ist, dass dein Gehirn mit der Amnesie auf ein viel älteres Trauma reagiert hat.«
    »Aber die Leute, von denen du sprichst, verfügen über ihr Gedächtnis, sie können über ihre Kindheit sprechen, Episoden aus ihrem Leben erzählen … Ich habe nichts.«
    »Du irrst dich. Wie deine Psychiaterin in Norwegen dir gesagt hat – und die Scans, die sie gemacht hat, sind der eindeutige Beweis, weil sie keinerlei Verletzung zeigen –, hast du dein autobiographisches Gedächtnis noch. Einen Beweis dafür sehe ich
in deiner Reaktion auf das Monogramm von One Earth gestern Abend am Flughafen. Dein Unterbewusstsein weigert sich, dir deine Erinnerungen zurückzugeben. Wir müssen einfach nur den Schlüssel finden, der uns den Zugang zu ihnen erlaubt.«
    »Aha, und wie willst du das anstellen?«
    »Du träumst, Nathan. Wir werden deine Träume erforschen.«
    26
    Es war eine Art gerade, knotige, graue Wurzel, die an den Stock eines Schamanen erinnerte. Ins künstliche Halbdunkel des Zimmers gehüllt, folgte Nathan mit den Augen der Spitze des Stabs, den Rhoda vor seinem Gesicht rasch hin und her bewegte.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
    Nathan, der mit herabhängenden Armen auf einem Stuhl saß, nickte.
    Es war eine einzigartige Erfahrung. Es hatte wie ein Spiel begonnen, aber je länger er seine Augäpfel bewegte, desto deutlicher spürte er ein leichtes Brennen, das sich in seinen Sehnerven verzweigte und schließlich mitten in seinem Gehirn implodierte. Nach und nach verließ er die Realität auf eine Weise, die er sich nicht erklären konnte.
    »Gut, jetzt möchte ich, dass wir über die Bilder deines Traums sprechen«, sagte Rhoda mit ruhiger Stimme.
    Nathan überlegte einen Augenblick, dann begann er: »Ich bin in einem hellen Zimmer. Und da ist auch ein Junge … Spielzeug liegt verstreut herum.«
    »Ganz ruhig, Nathan, lass dir Zeit … Siehst du noch etwas?«
    »Nein, nichts.«
    »Schau dich genau um, ist da noch etwas, noch jemand mit euch in diesem Zimmer … ?«

     
    Große Fenster, durch die grelles Licht ins Zimmer fällt, der glatte Boden. Jodgeruch. Ist das das Meer? Er konnte in seinem Traum buchstäblich herumlaufen, die kleinsten Einzelheiten entdecken, die sein Gedächtnis enthielt, ohne dass er es wusste. Er spürt, dass da jemand ist.
     
    »Ein Mann in Begleitung einer Frau … Sie beobachten uns.«
    »Wie sehen sie aus?«, fragte Rhoda.
    »Ich weiß es nicht, aber ich spüre, dass sie da sind. Jetzt gehen sie.«
    Eine starke Hitzewelle stieg ihm in den Kopf.
    »Vergiss nicht, dem Stab mit den Augen zu folgen. Und was geschieht jetzt?«, sagte Rhoda mit ruhiger

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