Im Bus ganz hinten
mehr von meinem alten Ich wissen: meinen Ä ngsten, den Panikattacken und der Wut,
wenn ich an meine Mutter dachte. Ich wollte all das endlich hinter mir lassen. Das war’s jetzt! Ich wollte A bschied nehmen vom alten Patrick
und inszenierte sogar eine symbolische Beerdigung. Dazu nahm ich ein altes Foto von mir und meinen Eltern in die Hand und starrte es einige
Minuten lang an. Das Bild stammte aus der Zeit, als mein Vater noch bei uns gewohnt hatte. Ich erinnerte mich noch einmal an alles, was
passiert war. Wie in einem Film zog mein ganzes Leben im Schnelldurchlauf an mir vorbei: Ich sah meinen Vater in seinen Cowboystiefeln mit
einer Bierflasche in der Hand, meine motzende Mutter im Wohnzimmer, die dunklen Gänge der Klapse, schließlich meine Einlieferung ins
Heim. Die Bilder taten so weh in meinem Kopf, dass ich es fast nicht ertragen konnte. Deshalb nahm ich ein Feuerzeug und zündete das Foto
in meiner Hand an. Ich zitterte. Meine A ugen füllten sich mit Tränen. Mein Herz brannte – so wie das Stück Papier in meiner Hand. Erst als die
Flammen anfingen, an meinen Fingern zu lecken, warf ich das Foto in die Kloschüssel, und in dem Moment zerfiel es zu schwarzer A sche. A ls
ich schließlich die Spülung zog, fühlte ich mit einem Mal nichts mehr. Gar nichts. Patrick Losensky war tot.
Und das war gut so. Es war sogar meine letzte Rettung: Manchmal muss man loslassen, was man ist, um zu werden, was man sein will. Kaum
hatte ich mich selbst innerlich beerdigt, empfand ich plötzlich ein unbändiges Gefühl von Stärke – ich hatte nun nichts mehr zu verlieren. Und
plötzlich wollte ich zurück ins Leben. Ich verspürte auf einmal wieder den Drang zu kämpfen. Und irgendwann, da war ich mir sicher, würde
schon auch mein Lachen wieder zurückkehren.
Im zweiten Halbjahr der 7. Klasse ließ ich mich auf eine neue Schule in der Nähe des Heims versetzen – die Beuckeschule in Zehlendorf. Hier
kannte mich niemand. Keiner von meinen Schulkameraden wusste über meine Geschichte Bescheid. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich den
ganzen Scheiß nun endlich würde hinter mir lassen können. Wie befreiend! Ich atmete auf, fühlte mich wie neu und unverbraucht und hatte
wieder Bock aufs Leben. Und so positiv, wie ich zu dieser Zeit drauf war, dauerte es auch nicht lange, bis ich an der neuen Schule Freunde
fand. Sie hießen Philip und Jo und gingen mit mir in dieselbe Klasse. Beide waren richtig gute Sprüher. Philip nannte sich Skim – als Mitglied
der bekannten Graffiti-Gang QB hatte er sich in der Szene bereits einen Namen gemacht. Ich fand ihn gleich am ersten Schultag cool – und da
der Platz neben ihm noch frei war, setzte ich mich einfach da hin. Leider stimmte die Chemie zwischen uns nicht so ganz. Das heißt, sie war
zumindest nicht ganz ausgeglichen: Ich mochte ihn, aber er wollte mir unbedingt zeigen, wer in der Klasse der Coolste war – nämlich er. Skim
sah fast aus wie ein A lbino. Seine Haut und seine Haare waren schneeweiß. Der Typ leuchtete wahrscheinlich sogar im Dunkeln. Dazu war er
ein echter Riese und schon damals mindestens 1,90 Meter groß. Ich war total versessen darauf, von ihm zu lernen. Ich wollte ein Sprüher
sein, das war mein Traum, und deshalb kam ich jeden Tag total euphorisch zur Schule und schnappte alles auf, was Skim über die Szene zu
erzählen hatte. Ich löcherte ihn mit Fragen: »Wie malt man richtig?«, »Was brauche ich dafür?«, »Wo gehe ich am besten hin?« Seine
Reaktion war nicht so begeistert. »Nerv mich doch nicht immer so!«, schnauzte er mich an. »Wieso? Lass uns doch einfach mal zusammen
losziehen«, schlug ich vor. Seine A ntwort war wie immer ziemlich nüchtern. »Mal sehen.« Und das hieß vermutlich so viel wie: »Verpiss dich
endlich, und lass mich in Ruhe!«
Im Unterricht zeichnete Philip andauernd seinen Sprühernamen in seine Schulbücher. A nstatt dem Lehrer zuzuhören, guckte ich ihm lieber
beim Malen zu und wurde entsprechend ermahnt. »Patrick, pass auf!«, hieß es ständig, aber das war mir scheißegal. Meine Gedanken kreisten
nur noch um das eine Thema: Ich brauchte unbedingt einen Sprühernamen. Einen, der richtig cool war. Schließlich sollte er mich
repräsentieren: Finden die Leute deinen Namen geil, stehen sie automatisch auch auf dich. Über den Namen bekommt man den ersten
Respekt. A ußerdem war es natürlich wichtig, dass ich ihn schnell würde schreiben können. Wenn man sein Tag irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher