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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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Mädchenklasse, die sich nach anfänglicher Betroffenheit als Ghetto einer Elite von Unberührbaren herausstellte. Eine Musterschülerin war ich nicht, aber ich habe immer gut aufgepasst. Vor allem war ich verrückt nach Worten und las alles, was mir in die Quere kam. Ich schnitt Artikel aus Mamas Zeitschriften aus und auch aus Papas Zeitungen, sobald er sie an mich weitergereicht hatte (wehe dem, der vor ihm in seinen Zeitungen herumblätterte oder hinter seinem Rücken stand, um mitzulesen). Ich verschlang Romane und Broschüren und liebte die Beipackzettel von Kosmetikartikeln. Meine Lieblingsbücher waren die Briefwechsel berühmter Personen. Betty und ihre Schwestern war der für mich maßgebliche Bildungsroman. Ich wollte wie Jo werden, so unabhängig und so selbstsicher, bis ich irgendwann auch meinen Professor Bhaer finden würde. Nachdem ich dann sämtliche beruflichen Möglichkeiten ausgeschöpft haben würde, würde ich zwei Kinder bekommen.
    Noch war nichts von alledem eingetreten, aber Jo bleibt mein großes Vorbild. Den Schwestern March habe ich meinen Abi-Aufsatz gewidmet, im Jahr der blinden Liebe.
    Hemingway-Tobia kritzelt weiterhin irgendwelche Dinge auf seinen Block. Sein Sandwich mit Kochschinken und Mayonnaise schlingt er herunter. Ich beobachte ihn, er schenkt mir ein flüchtiges Lächeln, und ich muss unwillkürlich denken, dass ich ihn gerne fragen würde, ob er Betty und ihre Schwestern gelesen hat. Und ob mich dieses Aas von Witch auch gefeuert hätte, wenn mein erstes Mal in meinem Lebenslauf aufgetaucht wäre.
    Sieht man mal von meinen Kindergartenfreunden ab, von denen ich nicht einmal mehr Namen und Gesichter erinnere, von David, genannt Banana, und Rodolphe – einem kleinen französischen Amor, der Tim aus Tim und Struppi ähnelte und den ich in einem meiner Sommer in Brighton kennen gelernt hatte, wo meine Eltern mich immer unter erheblichem finanziellem Aufwand hinschickten, damit ich meine Aussprache perfektionierte –, war Sebastian, genannt Seba, meine erste wahre Liebe, blind und jungfräulich.
    Von März bis Dezember habe ich für zwei gesehen.
    Mit achtzehn war ich nicht gerade das, was man ein selbstsicheres Mädchen nennt. In meinen Augen war ich ein misslungener Kompromiss zwischen groß und klein mit langen Beinen und spitzen Knien, die wie zwei Knollen unter den Röcken hervorschauten, zwei winzigen Brüsten und viel zu knochigen Füßen. Das Schönste an mir waren meine hellbraunen, vollen Haare, die ich endlich – nach der Phase der Zöpfchen und der kurzen Ponys, dann der Mode der Hochsteckfrisuren à la Degas und schließlich der Pferdeschwanzzeit, als man ständig zu hören bekam, dass man seine Haare zusammenbinden solle, weil sie sonst ins Essen fielen – nach eigenem Gutdünken frisieren konnte. Zum Rest meines Körpers hatte ich ein eher unbestimmtes Verhältnis. Er schien nicht zu dem zu passen, was meine Großmutter den »Tresor« nannte: das Herz.
    Ihrer Meinung nach zählte nichts als der Herzschlag.
    Sie legte ihre Hand an meine Brust und brachte mir bei, auf ihn zu hören. Jedes Mal hatte der Herzschlag einen anderen Klang, und wenn er hinter den Gitterstäben eines Käfigs gefangen war oder in einem Treibhaus erstickte, massierte sie mit kleinen Kreisen meine Brust, und die Gitterstäbe bogen sich auf wundersame Weise auseinander. Schloss ich dann die Augen, klopfte unter meinen Lidern wieder ein flammendes rotes Herz.
    Was Sebastian für mich bedeutete, kann man selbst im idealen CV nicht auf den Punkt bringen.
    Unsere Musiklehrerin, eine blinde Pianistin (»sehbehindert« vielmehr), hielt uns dazu an, den Waisen aus dem Blindenheim Märchen vorzulesen. Das Heim befand sich in einem knetgummigrauen Klotz, der von Beeten mit immergrünen Sträuchern umgeben war. In der warmen Jahreszeit pflanzten die Schüler auch noch rote und rosa Geranien in die Beete, als könnten sie in Wirklichkeit bestens sehen. Sebastian saß immer auf einer Steinbank in der Nähe der Sträucher, mit einer aschblonden Strubbelfrisur und einer viel zu großen dunklen Brille. Wir taten so, als würden wir ihn nicht sehen, da dieser lange, unglaublich hagere Körper, der kerzengerade und wie angewurzelt dort saß, sogar uns verwegenen Rot-Kreuz-Adepten aus der 11 B Schauer über den Rücken jagte. Eines Nachmittags – ich war

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