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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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in der Schule geblieben, um ein peinliches Ungenügend in Mathe auszubügeln – stand ich plötzlich vor ihm. Er lehnte am Türrahmen und wirkte wie jemand, der sich verlaufen hatte. In der rechten Hand hielt er einen weißen Teleskopstock, schmal und wendig wie der Bambusstock von Charlie Chaplin, die Linke hatte er in der Tasche.
    Ich: »Was machst du denn hier? Hast du dich verlaufen? Kann ich dir helfen?«
    Er: »Bist du zum Lernen hier?«
    Von jenem Tag an wartete er am Schultor auf mich.
    Er: »Ich bring dich nach Hause.«
    Ich: »Wir können zusammen lernen, wenn du magst.«
    Eine Woche nach unserer ersten Begegnung hatte er mich vom Heim nach Hause begleitet und ich ihn von zu Hause zum Heim, und wir standen noch am Eingangstor und plauderten ein wenig. Sebastian wollte hineingehen und schüttelte seinen Stock, als wollte er einen kaputten Regenschirm öffnen, aber dann besann er sich plötzlich anders und blieb stehen, als wäre ihm noch etwas eingefallen. Er kam näher, streckte seine Hand aus und führte sie ein paar Zentimeter vor meinem Gesicht von oben nach unten und dann wieder von unten nach oben, wie ein Maler, der Proportionen auf seine Leinwand übertragen will. Es war der 21. März, der erste Tag eines Frühlings, der nicht vom Winter lassen wollte, oder vielleicht war es auch der Winter, der nicht weichen wollte, jedenfalls war die Luft noch sehr kalt.
    An jenem Tag verliebte ich mich, vermutlich zum ersten Mal.
    Â»Ich höre dir zu«, sagte er. Egal, was ich sagte.
    Er begleitete mich zum Jazztanz.
    Ich begleitete ihn auf dem Klavier.
    Ich half ihm beim Lernen. Er wollte wie ich Sprachen studieren.
    Â»Ich werde Englischdolmetscher im Glaspalast der UNO «, sagte er immer. Er sprach Englisch, Französisch und Deutsch, aber bloß Laute zu lernen, schien ihm nie zu genügen.
    Er stellte mich seinen Freunden im Blindenheim vor.
    Er erzählte mir von seinen Eltern, die gestorben waren, bevor er sie kennenlernen konnte, und von der Erbschaft, die sie ihm hinterlassen hatten.
    Ich stellte ihn meiner Familie vor.
    Sebastian lauschte meinen Träumen und meiner Musik: Don’t cry von Guns N’ Roses, Losing my religion von R.E.M., Talking about revolution von Tracy Chapman, Twist in my sobriety von Tanita Tikaram, Until the end of the world von U2; und ich der seinen: Brahms, Beethoven, Bernstein, Béla Bartok, Carmen von Bizet, die Symphonie fantastique von Berlioz. Nur Bach machte ihn nervös.
    Er schenkte mir einen Walkman.
    Ich schenkte ihm ein Kissen, auf das mein Gesicht gedruckt war.
    Es waren glückliche Tage, die alle gleich verliefen, wie die Pappelreihen einer ländlichen Allee, deren Ende nicht abzusehen ist.
    Alles war leicht.
    Neu.
    Einzigartig.
    Wir gingen ins Kino und ins Schwimmbad in der Nähe. Meine Eltern betrachteten unsere Liebe mit einer Mischung aus Entsetzen und demokratischem Enthusiasmus. Sie nahmen uns mit ans Meer.
    Wir lachten unentwegt.
    Ich war viel zu emotional.
    Er brachte mir bei, wie man Filterlose raucht.
    Auf der Matte, die immer aufgerollt unter dem Bett lag, spielten wir »Schweigen«. Verloren hatte, wer es als Erster brach. Wer sich von der Angst überwältigen ließ. Mir gefiel es, ins Dunkel einzutauchen und ihm in die Abgründe dessen zu folgen, was er ein Privileg nannte. »Der Verlust der Sehkraft ist ein Anreiz, das zu perfektionieren, was uns sonst noch zur Verfügung steht«, sagte er, aber was mir an unserem Spiel gefiel, war die Möglichkeit, mich seinem Geheimnis anzunähern.
    Ich hatte noch nie mit einem Jungen geschlafen, aber an einem Regentag kamen wir uns plötzlich sehr nah und immer näher. Auf dem orangefarbenen Sofa im Wohnzimmer umarmte er mich fest, sehr fest.
    Wir schienen zu einem einzigen, untrennbaren Wesen verschmolzen.
    Dann plötzlich, an einem Dezembertag, erstarrte alles zu Eis.
    Es war der Tag der Griechischklausur, als wir den Mantel anbehielten, ein unvergesslicher Tag. Deborah, die Hausmeisterin, die sich wie eine warmherzige, klatschsüchtige Mutter unsere intimen Bekenntnisse anhörte, lud mich in ihr Kämmerchen ein, wo auf einem Behelfsöfchen die Espressokanne gurgelte. Sie reichte mir einen ihrer Kekse und eröffnete mir mit mütterlicher Stimme, dass Sebastian die Blindenschule verlassen habe.
    Mein Herz sackte ab und knallte zu Boden.
    BUMM .
    Ich fragte sie nicht, woher sie das wisse, und auch

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