Im Café der moeglichen Traeume
hörbar: »Ich bin einfach nur wahnsinnig müde, Olivia. Mir kommt es so vor, als würde ich für den Rest meines Lebens müde bleiben.« Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, von etwas Weisem und Hilfreichem ganz zu schweigen, stürzte ich mich auf ein sicheres Thema: Erzähl mir von GroÃmutter. Sich wieder wie ein Kind zu fühlen oder mir von den erstaunlichen Geschichten zu erzählen, wie sie Patientinnen geholfen hatte, eine Schwangerschaft abzubrechen, als das noch ein unmögliches Unterfangen war, lenkte sie von dem Felsblock auf ihrer Brust ab. Jenseits dieser seltenen Momente vertraute sich meine Mutter mir aber nicht an, weshalb ich auch nie wissen werde, warum ihre Ehe tatsächlich gescheitert ist. Auch die Scheidung wurde mit gröÃter Diskretion abgewickelt, wobei eine kleine Geschichte am Rande die innere Zusammengehörigkeit meiner Eltern demonstriert: Vor Gericht erschienen beide mit einem Blumenstrauà in der Hand und überreichten ihn sich vor den Augen des Richters, der sich, verblüfft über solche Artigkeiten, erkundigte, ob sie sich ihrer Entscheidung tatsächlich sicher seien. Ja, sie waren sich ihrer Entscheidung sicher, sind aber ansonsten ganz die Alten geblieben: solidarisch und romantisch.
Er gelbe Rosen.
Sie Margeriten.
Man kann nicht Partei ergreifen, da es nicht so ist, dass einer recht hat und der andere nicht. Es ist einfach nur so, dass einer von beiden zu lieben aufgehört hat. »Ich liebe dich nicht mehr« ist ein Urteil, das in keinem Alter und vor keinem irdischen Richter Berufung zulässt. Vor so viel Ehrlichkeit versagen die Argumente. Man beugt sich dem Geheimnis und versucht zu überleben.
Ich liebe sie beide gleich. Sie haben mich im Zeichen des Verbots von Verboten aufgezogen, und vielleicht verdankt es sich diesem Ãbermaà an Freiheit, die ich häufig gar nicht zu nutzen weiÃ, dass ich mir selbst eine Unzahl von Regeln auferlegt habe, die ich nicht immer zu befolgen vermag.
Was die Kleine denn mal werden will, wenn sie groà ist, hat mich vor allem Tante Emma oft gefragt. Wenn ich sie ärgern wollte, sagte ich einfach: »Nonne«, aber dann gelang es mir nicht, die Rolle des Mädchens, das sich dem klösterlichen Leben verschreiben will, konsequent durchzuhalten. Wir mussten lachen, und sie schien erleichtert. Viele der so vergesslichen Erwachsenen verdrängen die Erinnerung, dass jeder einmal denkt, nirgendwo könne man sich so gut vor den Ãngsten des wahren Lebens schützen wie in einem Kloster. Es war aber immer mit Mühen verbunden, die Frage, was die Kleine denn mal werden wolle, wenn sie groà ist, zu umschiffen, und wer weiÃ, ob man heute überhaupt noch den Mut hat, sie einer Zehnjährigen zu stellen. Immerhin geht man das Risiko ein, dass die Antwort lautet: »Mitglied des Prekariats«, »arbeitslos«, »Angestellte einer Zeitarbeitsfirma« oder â womit der Stolz einer ganzen Generation endgültig gebrochen wäre â »Ehefrau«. In Wirklichkeit weià ich nicht einmal jetzt, da ich als Arbeitslose unendlich viele Möglichkeiten hätte, was genau ich später mal machen möchte. Eine Berufung habe ich nie verspürt, und auch in der Rolle einer konkreten Person habe ich mich nie gesehen, weshalb ich wegen meiner Trägheit, die leicht mit Flexibilität verwechselt wurde, auch kein Theater gemacht habe, als nach der Mittelstufe andere für mich entschieden. Meine Eltern waren überzeugt davon, dass »Kinder, die aufs altsprachliche Gymnasium gehen, die besten sind«. Wenn sie hätte mitdiskutieren können, hätte meine GroÃmutter ein neusprachliches Gymnasium vorgeschlagen, aber sie machte sich nicht die Mühe, irgendwelche Botschaften zu dem Thema auszusenden. Der Weg war ja ohnehin vorgezeichnet: Nach der Schule ging man zur Uni, und nach der Uni fand man dann eine Arbeit, wobei viele bereits während des Studiums arbeiteten. »Arbeit« war ein ganz normales Wort und kein Synonym für einen Glücksfall oder, schlimmer noch, eine Schimäre. Aus der unbewussten Angst heraus, die Erwartungen meiner GroÃmutter zu enttäuschen, lernte ich dann aber trotzdem Fremdsprachen, und zwar mit den Audiokassetten, die manchmal an Papas Zeitungen hingen.
Sieht man mal von der instinktiven Abneigung gegen Mathematik und Physik ab, habe ich mich am Gymnasium wacker geschlagen. Ich kam in die einzige
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