Im Café der moeglichen Traeume
könne. Pah, er betrachtete sich als wenig ehrgeizigen Schüler, der noch ängstlicher war, als er es sich anmerken lieÃ, aber der Nimbus des umgänglichen, schüchternen Schülers â wie schwer war es doch, Schüchternheit zu erklären! â entsprach exakt seiner Vorstellung von Perfektion.
Zur Elternsprechstunde ging seine Mutter. Die exzessive Sorgfalt, mit der sie sich darauf vorbereitete, irritierte ihn. Stets trug sie dieselbe Uniform: einen Rock, der knapp die Knie bedeckte, eine helle Strumpfhose wie eine Novizin und einen kurzärmeligen Rollkragenpulli, über den sie Jacken zog, die sich ausschlieÃlich in der Farbe unterschieden, und zwar je nach Jahreszeit. Die einzige kokette Note war ihre doppelreihige Perlenkette, diese Kügelchen, mit denen er als Kind so gerne vor dem Einschlafen gespielt hatte. Seine Mutter schminkte sich auch nicht, von einem Hauch rosa Lippenstift mal abgesehen. Eigentlich war sie durchaus attraktiv, aber ihr haftete eine zähe Ãngstlichkeit an, die sicher auch die Lehrer bemerkt hatten. Das Schlimmste waren allerdings ihre Haare, die so weià waren wie die einer alten Frau.
»Manchmal wirkt er etwas geistesabwesend im Unterricht, aber er ist ein wunderbarer Junge, Signora, sehr reif für sein Alter. Sie können stolz auf ihn sein.« Man beruhigte sie, und sie schien es gerne glauben zu wollen. Einmal hatte die Tür vom Elternsprechzimmer einen Spalt weit aufgestanden, und er hatte sich dahinter versteckt, um das Gespräch zwischen ihr und dem Philosophielehrer zu belauschen. Er konnte beide im Profil sehen, wie sie da voreinander standen. Sie klammerte sich an die Tischkante wie an das Ruder eines Segelboots, hörte zu und nickte. Ihr Körper war so steif wie der einer Wache im Schilderhäuschen, aber als das Gespräch unter Austausch von Banalitäten voranschritt â »Was meinen Sie mit sehr gut , und worin ist er denn sehr gut?« â, fiel Diego auf, dass sich ihre Gesichtsmuskeln entspannten und die senkrechte Falte, diese unschuldige Wunde mitten auf ihrer Stirn, sich mit jedem Wort glättete. Wie eine alte Schülerin beschränkte sie sich auf ein gelegentliches Nicken, ohne irgendetwas zu erwidern oder zu fragen. Es war ihr Körper, der sich vertrauensvoll lockerte und für sie sprach. Im Ãbrigen war seine Mutter nicht in der Lage, allzu viele Emotionen zu bewältigen. Die Geheimnisse des Geistes regten sie zu sehr auf, und so war sie beruhigt, dass der Lehrer ihren Sohn als sehr guten Schüler ohne jede Anfechtungen beschrieb. Wenn sie dann abends das Abendessen auftrug, informierte sie ihren Ehemann über den Ausgang der Sache.
»Die Lehrer sagen, er sei intelligent, unser Kleiner. Aus ihm würde noch mal etwas werden.«
Diego war wenige Wochen vor ihrem vierzigsten Geburtstag geboren, am 9. Dezember 1976, und wurde wie ein Wunder begrüÃt, eine »Frucht des Zufalls«, gezeugt aus einer Nachlässigkeit oder vielleicht in einer verrückten Liebesnacht oder â wie es Eltern und Freunde nach dem schrecklichen Unglück hinzustellen pflegten â als weise vorausschauendes Geschenk des Himmels. Bis zum Dezember sieben Jahre später verlief sein Leben als Kind des Zufalls in ruhigen Bahnen, zwischen seiner Mutter, die Hausfrau war und ihr Juradiplom in der Schublade verwahrte, und seinem Vater, einem wortkargen Anwalt. Dann war geschehen, was geschehen war, und der Zweitgeborene, dessen allzu alte Eltern sich nicht mehr an den Furor der Liebe erinnerten, hatte eine wachsende Last zu tragen. Diego wurde zu einem kostbaren Kind, wurde von dem Kind, das er vor den Ereignissen gewesen war, zu dem Kind, das er nach den Ereignissen wurde.
Der Diego von vorher war nicht der Diego von danach.
Er war es, der sie retten würde.
Als daher der Moment gekommen war, sich für eine Universität zu entscheiden, verzichtete Diego auf die Verwirklichung seiner Träume und suchte nach einem Kompromiss zwischen dem, was väterlicher Stolz bereits beschlossen hatte (nach dem Abschluss wirst du dann in meiner Kanzlei ein Praktikum machen), und der Empfehlung seiner Lehrer, Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Tatsächlich konnte er sich nur für ein Fach wirklich begeistern, und das war die Physik. Forscher zu werden hätte gut zu seinem notorischen Wissensdrang gepasst. Ihm gefiel die Vorstellung, stundenlang über einer Formel zu brüten oder
Weitere Kostenlose Bücher