Im Café der moeglichen Traeume
nicht, wo Sebastian denn hingegangen sei. Ich muss die Bank fotografieren, dachte ich, als die Stimme des Rektors durch die Flure hallte und verkündete, dass wegen eines Heizungsrohrbruchs schulfrei sei.
Er
Es ist kurz nach neun.
Diego ist früh dran, und es missfällt ihm nicht, in dieser warmen, merkwürdig leeren Edelkonditorei zu sitzen. Könnte man einen Tag ohne lästige Lernverpflichtungen schöner beginnen, dachte er, lehnte sich zurück und schaute zum weià behandschuhten Kellner hinüber, der nur auf ein Zeichen von ihm zu warten schien. Kerzengerader Rücken, beharrlicher Blick. »Sachertorte oder Crostata? Frisch gepresster Orangensaft? Croissant?«
»Einen Kaffee, bitte.«
In den letzten Monaten war viel geschehen, und er konnte es kaum erwarten, Enrico davon zu erzählen. Für Diego, der überall Brüder suchte, war Enrico der Bruder, um den man ihn beneiden konnte, der einzige Freund, dem er vertraute, seit sie auf dem Gymnasium gemeinsam die Schulbank gedrückt hatten. Im Laufe ihrer fünfjährigen Freundschaft hatte sich irgendwann auch die Nähe eingestellt, die jene Bekenntnisse ermöglichte, die Frauen mühelos über die Lippen gingen, in denen Diego sich aber als chronisch unbedarft erwies. Dann hatten sie unterschiedliche Wege eingeschlagen. Enrico kaufte marode Unternehmen, sanierte sie und verkaufte sie dann wieder. Im Gegensatz zu ihm selbst verdiente er einen Haufen Geld, aber er bildete sich nichts darauf ein, und die alte Freundschaft hatte sich auf wundersame Weise in ihren Herzen erhalten. An diesem Morgen wurde das Glück vom Schnee noch einmal gekrönt. Die Szenerie war perfekt. Vollkommen unerwartet, wie alle Geschenke, die diesen Namen verdienen.
Der Schnee, Enrico und das Läuten einer Schulglocke nebenan.
Drrriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiing. Drrriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiing.
Wie viel Zeit war seit jenem Dezember vergangen, als er den Mut gefunden hatte, Enrico sein Geheimnis zu verraten? Fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre und ein paar Tage.
Drrriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiing. Drrriiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiing.
Die Erinnerung an jene andere Glocke, die unüberhörbar in seinem Innern schrillte, übertönte den Klang, der noch in der Luft vibrierte.
Als die Stimme des Rektors aus dem Lautsprecher dröhnte, wurde sie mit einem Aufschrei begrüÃt wie im Stadion. Die Heizung in der Schule war defekt, und nach zwei Stunden in der Eiseskälte gab man den Kindern schulfrei. Diego verlieà die Aula, entzog sich dem brausenden Meer aus Jacken und Schuhen und lehnte sich an die Wand, unschlüssig, ob er die Einladung zu einer Partie Billard in der Bar annehmen oder sich mit einer Ausrede von seinen Schulkameraden verabschieden sollte. Ãber den hellblauen Linoleumboden, der von Desinfektionsmitteln ausgebleicht und von Generationen von Schülern malträtiert worden war, ergoss sich plötzlich ein Lavastrom euphorischer Körper. Schwarze Streifen, Beulen, Zigarettenlöcher, Schnitte von Taschenmessern. An den Wänden zwei alte Weltkarten in Pastellfarben, mit Tesafilm angeklebt. Die Flure von Gymnasien ähneln sich, sind Stammbäume jugendlicher Dummheiten. Die Geschichten lauern zwischen den abgeblätterten Wänden, zum ewigen Soundtrack aus Gesprächen, mathematischen und chemischen Formeln, Sonetten und Zoten, Pfiffen, Flüchen und Hoffnungen.
Der Soundtrack des Lebens, in gewisser Weise.
Aus dem Fenster betrachtet war der Himmel eine einzige blaue Fläche, durchzogen nur vom Kondensstreifen eines Flugzeugs. Der weiÃe Kratzer verbreiterte sich zu einer Klinge, als Diego die gackernden Hühner der 11 B vorbeilieÃ. Aus dem Kabuff der Hausmeisterin drang ihm der süÃliche Geruch von Kaffee und Torrone direkt in die Nase. Diego ging hin, um sich einen Keks zu erbetteln. Nachdem er ihn zusammen mit dem üblichen aufmunternden Lächeln erhalten hatte, begab er sich zum Eingangsportal.
Er musste etliche Stunden totschlagen. Die würde er nicht mit einem Billardqueue in der Hand verbringen, nein danke, ein andermal. Er war kein Herdenmensch, aber auch kein Eigenbrötler. Er hielt sich lediglich gern ein wenig abseits, um nicht im Radau der Gruppe unterzugehen. Nur wenn er sich seine stillen Freiräume schuf, konnte er eine gewisse Stabilität wahren. Man sagte von ihm, dass er ein nachdenklicher Typ sei, das Richtige lerne und sich gut ausdrücken
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