Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
doch entdeckte man bei genauerem Hinsehen gewisse Besonderheiten, die sie von den anderen unterschieden. Sie verwandte auf ihre Kleidung eine bei den Gästen des Condé ungewöhnliche Sorgfalt. Eines Abends hatte sie sich am Tisch von Tarzan, Ali Cherif und La Houpa eine Zigarette angesteckt, und mir waren ihre schlanken Hände aufgefallen. Und vor allem: ihre Fingernägel glänzten. Sie trug farblosen Lack. Dieses Detail mag nichtig erscheinen. Ich will also etwas ernsthafter werden. Dazu muss ich die Stammgäste des Condé genauer beschreiben. Sie waren zwischen neunzehn und fünfundzwanzig, mit Ausnahme von ein paar Gästen wie Babilée, Adamov oder Doktor Vala, die allmählich auf die Fünfzig zugingen, doch ihr Alter vergaß man leicht. Babilée, Adamov und Doktor Vala waren ihrer Jugend treu und dem, was man mit einem melodiösen und altmodischen schönen Namen als »Boheme« bezeichnen könnte. Ich suche im Wörterbuch nach »Bohemien«: Person, die ein unstetes Leben führt, ohne Regeln, ohne Sorge ums Morgen. Das ist eine Definition, die auf die Besucher und Besucherinnen des Condé genau passte. Manche, wie Tarzan, Jean-Michel und Fred, behaupteten, sie hätten seit ihrer frühen Jugend häufig mit der Polizei zu tun gehabt, und La Houpa war mit sechzehn aus der Besserungsanstalt Bon-Pasteur entwichen. Doch man war am linken Seineufer, und die meisten von ihnen lebten im Schatten der Literatur und der Kunst. Ich selber studierte. Das getraute ich mich aber nicht zu sagen, und ich gehörte nicht wirklich zu ihrer Gruppe.
Ich hatte gespürt, dass sie anders war als die übrigen. Woher kam sie, bevor man ihr diesen Namen gab? Oft hatten die Stammgäste des Condé ein Buch in der Hand, das sie achtlos auf den Tisch legten und dessen Einband fleckig war von Wein. Die Gesänge des Maldoror . Illuminationen . Die geheimnisvollen Barrikaden . Ihre Hände jedoch waren in der Anfangszeit stets leer. Dann wollte sie es wahrscheinlich den andern gleichtun, und eines Tages überraschte ich sie im Condé allein und lesend. Von da an kam sie nie ohne ihr Buch. Sie legte es gut sichtbar auf den Tisch, wenn sie sich in Gesellschaft von Adamov und den anderen befand, als wäre dieses Buch ihr Reisepass oder eine Aufenthaltsgenehmigung, die ihre Anwesenheit hier neben ihnen legitimierte. Doch niemand schenkte ihm Beachtung, weder Adamov noch Babilée, noch Tarzan, noch La Houpa. Es war ein Taschenbuch mit schmuddeligem Einband, eines von denen, die man billig auf den Quais erwirbt, und es trug einen Titel in fetten roten Buchstaben: Der verlorene Horizont . Damals sagte mir das nichts. Ich hätte sie nach dem Inhalt des Buches fragen sollen, aber ich hatte mir dummerweise gesagt, dass Der verlorene Horizont für sie nichts war als ein Accessoire und dass sie vorgab zu lesen, um sich den Gästen des Condé anzugleichen. Diese Gäste, ein Passant, der von draußen einen flüchtigen Blick auf sie geworfen hätte – und für einen Moment sogar die Stirn an die Fensterscheibe gepresst –, mochte sie einfach nur für Studenten halten. Doch er hätte rasch seine Meinung geändert angesichts der Alkoholmengen, die am Tisch von Tarzan, Mireille, Fred und La Houpa getrunken wurden. In den friedlichen Cafés des Quartier Latin hätte man nie so viel getrunken. Sicher, in den flauen Stunden am Nachmittag konnte einen das Condé leicht täuschen. Doch sobald der Tag weiter voranschritt, wurde es zum Treffpunkt dessen, was ein rührseliger Philosoph »die verlorene Jugend« nannte. Warum dieses Café und nicht irgendein anderes? Wegen der Wirtin, einer Madame Chadly, die sich über nichts zu wundern schien und ihren Gästen gegenüber sogar eine gewisse Nachsicht bekundete. Viele Jahre später, als in den Straßen des Viertels nur noch Schaufenster von Luxusläden zu sehen waren und ein Lederwarengeschäft Le Condé verdrängt hatte, bin ich Madame Chadly am anderen Seineufer begegnet, in der ansteigenden Rue Blanche. Sie hat mich nicht gleich wiedererkannt. Wir sind eine ganze Weile nebeneinander hergegangen und haben über das Condé gesprochen. Ihr Mann, ein Algerier, hatte das Lokal nach dem Krieg gekauft. Sie erinnerte sich an alle unsere Vornamen. Sie fragte sich oft, was aus uns geworden war, aber sie machte sich keine Illusionen. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es mit uns ein ganz böses Ende nehmen würde. Streunende Hunde, hat sie gesagt. Und als wir uns vor der Apotheke auf der Place Blanche verabschiedeten, meinte sie
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