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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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plötzlich auf, die Läden klappern im Seewind. Die Zukunft liegt wieder vor dir.
    Kunstbuchverleger. Das ist mir so eingefallen, ohne langes Überlegen. Hätte mich jemand vor über zwanzig Jahren gefragt, was ich werden wollte, ich hätte gestammelt: Kunstbuchverleger. Na gut, heute habe ich’s gesagt. Nichts hat sich verändert. All die Jahre sind weggewischt.
    Bloß dass ich nicht vollkommen reinen Tisch gemacht habe mit der Vergangenheit. Ein paar Zeugen sind noch da, ein paar Überlebende von all jenen, die unsere Zeitgenossen waren. Eines Abends, im Montana, habe ich Doktor Vala nach seinem Geburtsdatum gefragt. Wir sind im selben Jahr geboren. Ich habe ihn daran erinnert, dass wir uns vor langer Zeit in derselben Bar getroffen hatten, als das Viertel noch in vollem Glanz erstrahlte. Und übrigens hätte ich das Gefühl, ihm schon viel früher begegnet zu sein, in anderen Vierteln von Paris, am rechten Seineufer. Ich war mir sogar sicher. Vala bestellte in schroffem Ton ein Viertel Vittel und fiel mir ins Wort, bevor ich unangenehme Erinnerungen hätte wachrufen können. Ich habe geschwiegen. Unser Leben hängt immer wieder am seidenen Faden eines Schweigens. Wir wissen genau übereinander Bescheid. Also versuchen wir, uns aus dem Weg zu gehen. Am besten ist es natürlich, wenn man sich endgültig aus den Augen verliert.
    Merkwürdiger Zufall … Ich bin wieder auf Vala gestoßen, als ich an jenem Tag zum ersten Mal die Schwelle des Condé überschritten habe. Er saß an einem Tisch ganz hinten, mit zwei oder drei jungen Leuten. Er hat mir einen bangen Blick zugeworfen, wie ein Bonvivant beim Auftritt eines Gespensts. Ich habe ihm zugelächelt. Ihm die Hand gedrückt, ohne ein Wort. Ich spürte, die kleinste Bemerkung meinerseits wäre ihm peinlich vor seinen neuen Freunden. Er wirkte erleichtert über mein Schweigen und meine Zurückhaltung, als ich mich auf die Moleskinbank setzte, am anderen Ende des Raums. Von hier konnte ich ihn beobachten, ohne dass er meinen Blick auffing. Er redete leise mit ihnen, vornübergebeugt. Hatte er Angst, ich könnte seine Äußerungen hören? Um mir die Zeit zu vertreiben, ersann ich all die Sätze, die ich in gespielt mondänem Ton hätte sagen können und die ihm Schweißperlen auf die Stirn getrieben hätten. »Sind Sie immer noch Arzt?« Und nach einer kleinen Pause: »Sagen Sie, praktizieren Sie weiterhin am Quai Louis-Blériot? Oder haben Sie noch Ihre Praxis in der Rue de Moscou … Und der Aufenthalt in Fresnes vor so langer Zeit, ich hoffe, der hatte keine allzu schwerwiegenden Folgen …« Fast hätte ich laut herausgelacht, ganz allein, da, in meiner Ecke. Man wird nicht älter. Mit den Jahren, die vergehen, kommen einem viele Menschen und Dinge am Ende so komisch vor und so lächerlich, dass man sie mit den Augen eines Kindes betrachtet.
    Bei diesem ersten Besuch habe ich lange im Condé gewartet. Sie ist nicht gekommen. Ich musste Geduld haben. Ein andermal würde es klappen. Ich habe die Gäste beobachtet. Die meisten waren nicht älter als fünfundzwanzig, und ein Romancier des 19. Jahrhunderts hätte bei ihnen wohl von »studentischer Boheme« gesprochen. Aber meiner Meinung nach waren nur ganz wenige an der Sorbonne eingeschrieben oder an der École des Mines. Ich muss gestehen, während ich sie aus der Nähe beobachtete, machte ich mir Sorgen um ihre Zukunft.
    Zwei Männer betraten kurz hintereinander das Lokal. Adamov und dieser Brünette mit dem geschmeidigen Gang, der ein paar Bücher veröffentlicht hat unter dem Namen Maurice Raphaël. Ich kannte Adamov vom Sehen. Früher einmal war er fast jeden Tag im Old Navy, und seinen Blick vergaß man nicht so leicht. Ich glaube, ich hatte ihm geholfen, seine Papiere in Ordnung zu bringen, damals, als ich noch Leute kannte beim Geheimdienst. Und Maurice Raphaël, der war ebenfalls Stammgast in den Bars jenes Viertels. Es hieß, er hätte Probleme gehabt nach dem Krieg, unter einem anderen Namen. Damals arbeitete ich für Blémant. Sie gingen alle beide an den Tresen. Maurice Raphaël blieb stehen, sehr gerade, und Adamov kletterte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Hocker. Er hatte meine Anwesenheit nicht bemerkt. Außerdem, würde mein Gesicht ihm noch irgendetwas sagen? Drei junge Leute, darunter ein blondes Mädchen, das einen abgeschabten Regenmantel trug und Stirnfransen, kamen zu ihnen an den Tresen. Maurice Raphaël hielt ihnen ein Päckchen Zigaretten hin und betrachtete sie mit amüsiertem

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