Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
nahm er sein Glas und leerte es in einem Zug. Er stand auf und kam auf mich zu. Mit tonloser Stimme sagte er: »Louki. Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt.«
Ich hatte Angst, mich im Weg zu irren. Ich bin über Raspail gegangen und die Straße mitten durch den Friedhof. Am Ende angekommen, wusste ich nicht mehr, ob ich geradeaus weitergehen musste oder der Rue Froidevaux folgen. Ich bin der Rue Froidevaux gefolgt. Von diesem Augenblick an gab es eine Lücke in meinem Leben, einen weißen Fleck, der mir nicht bloß ein Gefühl von Leere verursachte, sondern dessen Anblick ich nicht ertragen konnte. Dieses ganze Weiß blendete mich mit einem grellen, strahlenden Licht. Und das wird so bleiben, bis ans Ende.
Viel später, im Hôpital Broussais, saß ich in einem Wartesaal. Ein Mann so um die Fünfzig, das graue Haar im Bürstenschnitt, mit einem Fischgrätmantel bekleidet, wartete ebenfalls, auf der Bank gegenüber. Außer ihm und mir war niemand da. Die Krankenschwester ist gekommen und sagte mir, dass sie tot war. Er trat zu uns, als beträfe die Sache auch ihn. Ich dachte, er sei Guy Lavigne, der Freund ihrer Mutter, den sie in Auteuil in seiner Autowerkstatt besuchte. Ich habe ihn gefragt:
»Sind Sie Guy Lavigne?«
Er hat den Kopf geschüttelt.
»Nein. Ich heiße Pierre Caisley.«
Wir haben das Hôpital Broussais gemeinsam verlassen. Es war finster geworden. Wir gingen nebeneinander die Rue Didot entlang.
»Und Sie, ich nehme an, Sie sind Roland?«
Woher wusste er meinen Namen? Das Gehen fiel mir schwer. Dieses Weiß, dieses strahlende Licht vor mir …
»Hat sie keinen Brief hinterlassen?« habe ich gefragt.
»Nein. Nichts.«
Er hat mir alles erzählt. Sie befand sich in ihrem Zimmer, mit einer gewissen Jeannette Gaul, die Totenkopf genannt wurde. Aber wieso kannte er Jeannettes Spitznamen? Sie war hinaus auf den Balkon getreten. Sie hatte ein Bein über das Geländer geschwungen. Die andere hatte versucht, sie an einem Zipfel ihres Morgenrocks festzuhalten. Doch es war zu spät. Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, ein paar Worte zu sagen, als rede sie mit sich selbst, um sich Mut zu machen:
»Es ist soweit. Lass dich fallen.«
Patrick Modiano
Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française und den Prix Goncourt.
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1945 in Paris geboren, gilt heute als einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller
1968 Romandebüt La Place de l’Etoile
1974 Co-Autor am Drehbuch zu Louis Malles Film „Lacombe Lucien“
1994 Autor der Vorlage zu Patrice Lecontes Film „Das Parfum der Yvonne“
2000 Jury-Mitglied bei den Filmfestspielen in Cannes
Peter Handke entdeckte Patrick Modiano für das deutsche Publikum und übertrug 1985 seinen Roman Eine Jugend ins Deutsche. Nach und nach erschienen seine Bücher auf deutsch. Patrick Modiano gilt als einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller.
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
1998 Dora Bruder. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
2000 Aus tiefstem Vergessen.Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
2002 Unbekannte Frauen.Roman. Aus dem Franzöischen von Elisabeth Edl
2003 Die kleine Bijou. Roman. Aus dem Französischen von Peter Handke
2006 Unfall in der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
2007 Ein Stammbaum. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
2010 Place de l'Etoile. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Elisabeth Edl
Auszeichnungen
2010 Preis der SWR-Bestenliste
1996 Grand Prix National des Lettres
1978 Prix Goncourt
1972 Großer Romanpreis der Académie Francaise
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