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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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noch, und dabei sah sie mir fest in die Augen: »Am allerliebsten mochte ich Louki.«
    Wenn sie mit Tarzan, Fred und La Houpa an einem Tisch saß, trank sie dann genausoviel, oder tat sie nur so, um die anderen nicht zu verstimmen? Jedenfalls konnte sie mit sehr geradem Oberkörper, mit langsamen, anmutigen Bewegungen und einem kaum merklichen Lächeln dem Alkohol verdammt gut standhalten. Am Tresen ist es leichter zu mogeln. Man nutzt die kurze Unachtsamkeit der betrunkenen Freunde und kippt sein Glas ins Spülbecken. Aber hier, an einem der Tische des Condé, war es viel schwieriger. Sie zwangen einen, bei ihren Besäufnissen mitzumachen. In dieser Hinsicht waren sie äußerst empfindlich und betrachteten einen schnell als ihrer Gruppe unwürdig, begleitete man sie nicht bis zum Schluss auf ihren sogenannten »Reisen«. Was andere Rauschgifte betraf, so hatte ich zu verstehen geglaubt, ohne mir dessen ganz sicher zu sein, dass Louki zusammen mit gewissen Gruppenmitgliedern etwas nahm. Und doch verriet nichts in ihrem Blick oder ihrem Verhalten, dass sie künstliche Paradiese aufsuchte.
    Ich habe mich oft gefragt, ob irgendein Bekannter ihr vom Condé erzählt hatte, bevor sie es zum ersten Mal betrat. Oder ob sich jemand mit ihr in diesem Café verabredet hatte und nicht gekommen war. In diesem Fall hätte sie Tag für Tag, Abend für Abend Stellung an ihrem Tisch bezogen, in der Hoffnung, ihn an diesem Ort wiederzufinden, dem einzigen Bezugspunkt zwischen ihr und dem Unbekannten. Keine andere Möglichkeit, mit ihm in Verbindung zu treten. Weder Adresse noch Telefonnummer. Bloß ein Vorname. Aber vielleicht war sie auch zufällig hier gestrandet, so wie ich. Sie war gerade im Viertel und wollte Schutz suchen vor dem Regen. Ich habe immer geglaubt, dass manche Orte Magnete sind und dass man angezogen wird, sobald man in ihre Nähe kommt. Und zwar auf unmerkliche Weise, ohne dass man etwas ahnt. Eine abschüssige Straße kann schon genügen, ein sonniges Trottoir oder ebensogut ein Trottoir im Schatten. Oder ein Regenschauer. Und das führt einen dann genau zu dem Punkt, wo man stranden musste. Mir scheint, das Condé besaß dank seiner Lage diese magnetische Kraft, und hätte man eine Wahrscheinlichkeitsrechnung angestellt, wäre meine Vermutung bestätigt worden: In einem ziemlich weiten Umkreis musste man zwangsläufig zu ihm abdriften. Davon kann ich ein Lied singen.
    Ein Mitglied der Gruppe, Bowing, von uns allen »Capitaine« genannt, hatte mit einem Unternehmen begonnen, das die anderen guthießen. Seit fast drei Jahren notierte er die Namen der Gäste des Condé, und zwar in der Reihenfolge ihres Eintreffens, jeweils mit Datum und genauer Uhrzeit. Er hatte zwei Freunde mit derselben Aufgabe betraut, im Bouquet und in der Pergola, welche die ganze Nacht hindurch geöffnet blieben. Leider wollten die Gäste in diesen beiden Cafés nicht immer ihre Namen sagen. Im Grunde versuchte Bowing nur, all die Schmetterlinge, die für ein paar Augenblicke um eine Lampe schwirren, vor dem Vergessen zu bewahren. Er träume, sagte er, von einem riesigen Register, in dem die Namen der Gäste aller Pariser Cafés seit hundert Jahren verzeichnet wären, samt Angabe ihres Eintreffens und ihres Weggehens. Er war besessen von etwas, das er »Fixpunkte« nannte.
    In dieser ununterbrochenen Flut von Frauen, Männern, Kindern, Hunden, die vorüberziehen und sich irgendwo in den Straßen verlieren, würde man gerne von Zeit zu Zeit ein Gesicht festhalten. Ja, wie Bowing meinte, inmitten dieses Malstroms der Großstädte musste man ein paar Fixpunkte finden. Bevor er ins Ausland gegangen war, hatte er mir das Heft anvertraut, in das Tag für Tag, über drei Jahre hinweg, die Gäste des Condé eingetragen sind. Sie erscheint darin nur unter ihrem falschen Vornamen, Louki, und erwähnt wird sie zum ersten Mal an einem 23. Januar. Der Winter in jenem Jahr war besonders hart, und manche von uns verließen das Condé den ganzen Tag nicht, um sich vor der Kälte zu schützen. Der Capitaine notierte auch unsere Adressen, sodass man sich den üblichen Weg ausmalen konnte, der jeden von uns bis zum Condé führte. Auch das war für Bowing ein Mittel, Fixpunkte zu schaffen. Er vermerkt ihre Adresse nicht sofort. Erst an einem 18. März lesen wir: »14 Uhr. Louki, Rue Fermat Nr. 16, 14. Arrondissement.« Doch am 5. September desselben Jahres hat ihre Adresse sich geändert: »23 Uhr 40. Louki, Rue Cels Nr. 8, 14. Arrondissement.« Ich vermute,

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