Im Dunkel der Waelder
Krankenschwestern noch den Ärzten reden würde. Durch ihre Gespräche untereinander begriff ich, wie ernst mein Zustand war. Ich konnte es nicht glauben. Und dennoch …
Man unterzog mich unzähligen Tests, bis man zu dem Schluß kam, daß, obwohl mein Rückenmark nicht irreparabel verletzt zu sein schien, meine Bewegungszentren ernsthaft geschädigt waren. »Motorischer Kortex … Funktionsstörung des Kleinhirns … möglicherweise ein katatonischer Zustand …« Kurz, ein Defekt. Was nun meine Augen anging, kam man zu dem gleichen Ergebnis: Der Sehnerv ist intakt, aber irgend etwas in meinem Gehirn muß angegriffen sein, und die Ärzte wissen nicht, ob ich jemals wieder werde sehen können. Sie sind sich nicht sicher, ob ich höre und verstehe, was man mir sagt, also sprechen sie mit mir, als sei ich geistig behindert. Und so verhalten sich auch alle anderen, bis auf Yvette, die hartnäckig daran glaubt – und das ganz zu Recht –, daß ich alles mitbekomme und mich eines Tages wie ein wieder zum Leben erweckter Lazarus aus meinem Rollstuhl erheben werde …
Damit wäre eigentlich schon alles gesagt. Ich bin sechsunddreißig. Ich fuhr Ski, spielte Tennis, ging wandern und schwimmen, ich liebte die Sonne, Ausflüge, Reisen, Liebesromane. Die Liebe … Und nun bin ich in mir selbst begraben und bete jeden Tag darum, endlich richtig sterben zu können.
Wenn ich mitbekomme, wie Yvette sich um mich bemüht, muß ich oft an einen Film denken, den ich mal im Fernsehen gesehen habe. Er handelte von einer armen Kreatur wie mir, doch der hatte man auch noch Arme und Beine amputiert, es war die Geschichte eines blinden und tauben menschlichen Wracks, das verzweifelt versuchte, mit seiner Krankenschwester zu kommunizieren, um sie dazu zu bringen, es zu töten. Benoît und ich hätten beinahe losgeheult. Gesund und glücklich, ein Glas Wein in der Hand, saßen wir behaglich auf dem Sofa. Bereit, das Unglück anderer zu beweinen.
Yvette schimpft mit mir. Ich versuche zu schlucken. Es ist schwierig. Tag für Tag frage ich mich, warum bestimmte Muskeln funktionieren und andere nicht. Warum hört mein Herz nicht auf, Blut zu pumpen, und warum arbeitet mein Gehirn noch immer? Warum spüre ich jede Berührung und warum bekomme ich Gänsehaut, wenn ich friere? Tag für Tag, seit ich das Bewußtsein wiedererlangt habe, konzentriere ich meine ganze Willenskraft auf ein einziges Ziel: Ich will mich bewegen. Bewegen, bewegen, bewegen. Vor zwei Monaten gelang es mir, mit den Augen zu blinzeln, und letzten Monat schaffte ich es, den Zeigefinger meiner linken Hand zu heben. Ich kann auch den Kopf bewegen, aber das sind unkontrollierte Bewegungen, auf die ich keinen Einfluß habe. Raybaud, mein Arzt, sagt, das sei ein enormer Fortschritt. Und daß er zum Surfen fährt. Raybaud kann man nicht gerade als besonders feinfühlig bezeichnen. Seiner Ansicht nach gehöre ich in eine Spezialklinik. In ein aseptisches Heim, in eine Art Lager für Mehlsäcke, denn als solcher fühle ich mich.
Das Abendessen ist beendet. Yvette räumt ab. Sie schaltet den Fernseher ein und spült das Geschirr. Nachrichten. »In Bourgen-Bresse stürzte ein Kran auf ein Wohnhaus. « Sirenengeheul, Schreie, Kommentare. Es kommt noch besser: ein Irrtum der Polizei. »Ein junger Araber wurde wegen eines Autodiebstahls versehentlich erschossen. Der Innenminister …« Was hatten wir bloß vor dieser verdammten Bank verloren? Gibt es tatsächlich so etwas wie Schicksal? »In der Region Yvelines sucht die Polizei noch immer nach dem kleinen Michael Massenet …« Und wenn das mein Schicksal ist, wie soll ich es akzeptieren? Was nützt es dann, sich zu beklagen? »Ein Hochdruckgebiet über den Azoren …« Dröhnende Werbung. Ich höre Stimmen, die überschwenglich die Vorzüge von Windeln, Matratzen, Waschmitteln, Autos, Toilettenpapier, Elektrogeräten, Parfüm, Käse und Tiefkühlkost anpreisen. Das scheint mir alles so weit, weit weg. Jetzt fängt die Sendung an, die sich Yvette heute ansehen will: Eine Diskussion über Drogenmißbrauch und Kriminalität an den Schulen. Ich lausche andächtig.
Ende der Diskussionsrunde. Man ist sich nicht einig geworden, aber alle machen sich gegenseitig überschwenglich Komplimente. Yvette seufzt und schiebt mich in mein Zimmer. Morgen müßte eigentlich die Masseurin kommen. Sie wird an meinen leblosen Gliedmaßen ziehen, sie mit Öl einreiben, sie stundenlang durchkneten und sich dabei fragen, ob ich irgend etwas davon spüre.
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