Im Dunkel der Waelder
Und ich werde ihr nicht antworten können.
»Gute Nacht«, sagt Yvette.
Egal, ob man das als gut oder schlecht betrachtet, für mich ist immer Nacht.
Heute morgen hat Yvette mich mit in den Supermarkt genommen, wie übrigens jeden Samstag, seit die Witterung milder geworden ist. Das Geschäft ist ganz in der Nähe, sie geht zu Fuß dorthin und schiebt mich dabei im Rollstuhl. Wunderbare Yvette, die sich nicht beirren läßt und mich wie ein Wesen mit vollem Denkvermögen behandelt. Ich habe Glück, daß ich sitzen kann. So habe ich zumindest das Vergnügen, die Sonne auf meinem Gesicht zu spüren, die Vögel, das Gehupe, das Geschrei der Kinder zu hören, die Auspuffgase und den Geruch frisch geschnittenen Grases einzuatmen, mir eine farbige Welt in Bewegung vorzustellen. Yvette hat mir eine Sonnenbrille aufgesetzt. Sie behauptet, das Sonnenlicht könne meinen Augen schaden. Ich denke, sie tut dies nur, damit die Kinder nicht vor meinem starren Blick erschrecken. Meinen Augen schaden … Sie sind ja doch zu nichts mehr nutze! Das Schlimmste, so sage ich mir manchmal im Scherz, ist, daß ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen kann. Das ist natürlich unsinnig, aber ich frage mich oft, ob ich noch immer hübsch bin. Bin ich gut frisiert? Was das angeht, habe ich allerdings nur wenig Vertrauen in Yvettes Fähigkeiten.
Yvette hat mich in der Nähe eines Baumes abgestellt, das hat sie mir zumindest gesagt. Schön ruhig, nicht weit weg vom Parkwächter für den Fall, daß irgendwelche bösen Buben auf die Idee kämen, mich wegzufahren. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: »Hübsche Gelähmte von einer Bande junger Asozialer vergewaltigt.« Yvette ist in den Supermarkt gegangen, um ihre Besorgungen zu erledigen. Ich warte. Die Leute unterhalten sich über das Wetter, die Wahlen, die Arbeitslosigkeit etc. Bevor ich zu einem Mehlsack wurde, leitete ich ein kleines Kino, das Trianon, am Stadtrand, pardon, im neuerschlossenen Stadtgebiet. Drei frisch renovierte Säle. Vom Vater geerbt. Einen Teil des Programms widmete ich der Filmkunst, was dazu führte, daß ich auf ziemlich viele Festivals eingeladen wurde und häufig nach Paris fuhr. Kino, Theater, vorbei. Nein, ich werde jetzt nicht wieder anfangen, mich selbst zu bemitleiden.
Irgend etwas ist mir gerade auf die Hand gefallen. Es ist feucht. Ich höre ein Gurren über meinem Kopf. Verfluchte Taube! Beim Gedanken an diesen Vogeldreck auf meiner Hand ekelt mich. Ich ertrage es nicht länger, keine Macht über meinen Körper zu haben, ich ertrage diese Ohnmacht nicht länger …
»Warum wischst du das nicht weg?«
Jemand spricht mit mir. Ein Kind. Eine kleine, schüchterne Stimme. Ich sage nichts, wie könnte ich auch.
»Madame! Eine Taube hat dir auf die Hand gemacht.«
Das Kind wundert sich bestimmt, warum ich nichts sage. Es kommt näher, ich höre seinen Atem jetzt ganz deutlich.
»Bist du krank?«
Sehr scharfsinnig, dieses Kind! Ich nehme meinen ganzen Willen zusammen und hebe den Zeigefinger.
»Kannst du nicht sprechen?«
Nein, ich kann nicht. Ich hebe wieder den Zeigefinger. Ich weiß nicht einmal, ob das Kind es bemerkt hat.
»Ich heiße Virginie.«
Ein Mädchen! Mein Gehörsinn ist noch nicht so gut entwickelt wie der eines Blinden. Sie legt ihre Hand auf meine, ich spüre sie, eine kleine, junge Hand. Was macht sie? Ah, sie wischt mir die Hand ab, ich spüre ein Stoffoder ein Papiertaschentuch.
»Ich mach dir die Hand sauber, Madame. Wohnst du hier?«
Ich hebe den Zeigefinger.
»Wenn du den Zeigefinger hebst, bedeutet das ›ja‹?«
Ich hebe den Zeigefinger.
»Ich wohne auch hier. Ich bin mit meinem Papa hier, wir kaufen ein. Er sagt, ich darf nicht mit Fremden sprechen, aber bei dir ist das doch was anderes, oder? Du bist gelähmt. Hattest du einen Unfall?«
Ich hebe den Zeigefinger. Es ist meine erste Unterhaltung seit Monaten. Ich frage mich, wie alt sie wohl ist.
»Mein Papa arbeitet in einer Bank. Meine Mama ist Bibliothekarin. Und ich gehe in die Schule, ins Charmilles. Ich bin sieben. Du, soll ich dir eine Geschichte erzählen?«
Gedankenverloren hebe ich den Zeigefinger. Sieben Jahre ist sie. Ihre ganze Zukunft liegt noch vor ihr. Wenn man bedenkt, daß ich auch mal sieben Jahre alt war und mir geschworen hatte, große Dinge zu vollbringen …
»Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Victor. Er war der Sohn von der Frau, der der Tabakladen gehört. Er war sehr böse, und eines Tages hat man ihn dann tot im Wald gefunden, wo
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