Im Dunkel der Waelder
er aber gar nicht hindurfte.«
Aber was erzählt sie da?
»Die Polizei ist gekommen, aber sie haben nichts herausgefunden. Nach Victor hat sich die Bestie der Wälder Charles-Eric geschnappt, den Sohn von der Frau auf der Post. Man hat ihn im Gebüsch an der Bahnlinie gefunden, und er war auch voller Blut. Die Polizei ist zwar gekommen, aber der Fall wurde wieder nicht aufgeklärt. Und dann kam Renaud dran. Und gestern hat sich die Bestie Michael geschnappt, am Flußufer.«
Dieses Mädchen ist verrückt. Wie kann sie sich nur so eine Geschichte ausdenken? Sie stützt sich auf meinen Unterarm und flüstert mir zu:
»Aber ich, ich weiß, wer sie getötet hat.«
Was? Wo hat die Kleine denn den Unsinn her? Wo ist ihr Vater?
»Weil ich ihn gesehen habe, den Mörder. Hörst du mir zu?«
Ich hebe den Zeigefinger. Und wenn es wahr wäre? Nein, das ist lächerlich. Schon wieder ein Kind, das zuviel Fernsehen guckt.
»Und seitdem habe ich die ganze Zeit Angst. Ich bin in der Schule schlechter geworden, und alle glauben, daß das so ist, weil Renaud tot ist. Renaud war mein großer Bruder, verstehst du?«
Ich hebe den Zeigefinger. Dieses Kind hat eine total kranke Phantasie.
»Ich habe die Bestie gesehen, als das mit Renaud passiert ist. Im Häuschen hinten im Garten. Du weißt schon, so ein Häuschen für Kinder aus Stoff, wo Fenster draufgemalt sind, und Renaud war da drin und …«
»Virginie!« Eine männliche Stimme, warm und tief. »Ich suche dich jetzt schon seit einer Viertelstunde. Ich hab dir doch gesagt, du sollst in der Nähe vom Kiosk bleiben. Sie hat Sie doch hoffentlich nicht gestört, Mademoiselle? Oh, entschuldigen Sie …«
Die Leute entschuldigen sich immer, wenn sie meinen Zustand bemerken.
»Sag auf Wiedersehen zu der Dame, Virginie.«
»Auf Wiedersehen, Madame. Wir kommen jeden Samstag zum Einkaufen her.«
»Virginie! Das reicht! Entschuldigen Sie …«
Seine Stimme klingt jung. Eine sehr schöne Stimme. Ich stelle mir einen großen Mann mit kurzem Haar, in Jeans und einem Polohemd von Lacoste vor.
»Ist etwas passiert?«
Ich höre Yvette.
»Nein, nein, Virginie hat nur mit Madame gesprochen und ich hoffe, sie hat sie nicht gestört.«
Von allen Dingen, die mich so stören, ist dieses Mädchen wirklich das kleinste Übel. Ich höre Yvette flüstern. Ich überlege, was sie ihm wohl erzählt. »Ein schrecklicher Unfall, blablabla, behindert, blind geworden, kann nicht mehr sprechen, entsetzlich, blablabla, so jung, ihr Verlobter starb, die Arme, keine Hoffnung, die Ärzte sind pessimistisch, das Leben ist so ungerecht …«
Virginie flüstert mir zu: »Wenn du Samstag kommst, erzähle ich dir die Geschichte weiter.«
»So, nun komm, wir gehen! Sag auf Wiedersehen.«
Ich stelle mir vor, wie ihr Vater sie an der Hand zieht, es eilig hat wegzukommen.
Yvette stellt mir einen Teil der Plastiktüten, die voller spitzer Sachen sind, auf den Schoß, die anderen hängt sie an die Griffe des Rollstuhls und los geht’s. Während sie mich schiebt, redet sie mit mir, wie sie es immer macht, wenn sie mich spazierenfährt. Diese Monologe sind ihr zur Gewohnheit geworden. Sie hat zu Raybaud gesagt, sie sei überzeugt davon, daß ich sie verstehe. Recht hat sie. Raybaud hat gemeint, sie solle sich keine allzu großen Illusionen machen. Und hopp, ab aufs Surfbrett! Mein Fall interessiert ihn nicht wirklich. Viel zu deprimierend. Der einzige, der echtes Interesse an meinem Fall bekundet hat, ist der Neuropsychologe des Krankenhauses, Professor Combré. Er ist Spezialist auf dem Gebiet der Gehirnchirurgie. In drei Monaten will er mich wieder untersuchen. Manchmal träume ich davon, daß er beschließt, eine Operation vorzunehmen, die sozusagen die allerletzte Chance auf Heilung für mich wäre. Aber wie soll ich ihn davon überzeugen? Yvette redet in einem fort.
»Stellen Sie sich vor, Seezunge ist schon wieder teurer geworden. Bald können sich nur noch Milliardäre frischen Fisch leisten. Ich weiß schon, daß Ihnen das völlig egal ist, aber trotzdem.«
Ich weiß nicht, warum, aber Yvette hat immer darauf bestanden, mich zu siezen. Sie hat meine Eltern gesiezt und ich war Mademoiselle Elise. Das klingt ein wenig altertümlich. Sie spricht gerade über Virginie:
»Wirklich ein hübsches kleines Mädchen, ja. Ihr Vater auch, ein sympathischer Mann. Anständige Leute, das sieht man sofort. Die Kleine gepflegt, sauber, höflich. Er sehr elegant, blaß-grünes Polohemd, saubere Jeans, aber dennoch
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