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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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einmal hiergewesen, denn sie griff einen Küchenschemel und nahm in der Türöffnung Platz.
    »Nimm Platz«, sagte Riesen-Olsen höflich zu mir. Ich sah mich um. Ich hatte die Wahl zwischen einem Heizstrahler, den Riesen-Olsen und seine Freundin bei ihren Freiübungen zur Seite getreten hatten, und einer umgestülpten Bierkiste. Ich wählte die Bierkiste und Riesen-Olsen setzte sich auf den Ofen. »Dann servier du mal, Lisbeth«, sagte er zu seiner Freundin, und die Dame ging gehorsam in die Küche und holte fünf schmutzige Wassergläser.
    Der Genever schimmerte in den Gläsern und wir prosteten in die Runde. Die Wände waren nackt, bis auf eine, an die er eine Seite von Bergens Tidende geheftet hatte. Ich hatte keine Ahnung, weshalb. Es war die Landwirtschaftsseite. Der Raum lag im Halbdunkel und die Sonne reichte nicht so weit herunter. Es war zu spät im Jahr, oder zu früh am Tag. »Geht’s uns nich prima?« sagte Riesen-Olsen und sah strahlend um sich.
    Seine Freundin war mitten im Raum stehengeblieben, und ihr blieb nichts weiter übrig, als sich einfach da zu setzen, wo sie stand. Vorläufig sah ich, daß sie zögerte und ich konnte erraten, warum. Hinten in einer Ecke lag ihr Höschen, das er ihr noch hatte ausziehen können, bevor wir kamen.
    Ihr altersloses Gesicht wandte sich mir zu. Die Augen waren braun, das Haar dunkel und zerzaust, mit ein paar unsymmetrisch verteilten hellbraunen Strähnen, und um ihren Mund lag ein verwüsteter Zug. Ich hatte sie selbstverständlich schon längst wiedererkannt. Es war mir nur bis dahin nicht klar geworden.
    »Sag mal – kenn ich dich nich von irgendwoher?« fragte sie mit rauher Stimme und kniff das eine Auge zu, als könne ihr das helfen, mich besser zu sehen.
    »Ich bin viel auf Achse«, sagte ich. »Überall und nirgends, in der Stadt.«
»Was biste denn eigentlich?«
Ich antwortete nicht direkt. »Ich war mal beim Jugendamt.«
»Ohja.« Ihr Gesicht wurde flach. »Die haben meine Kleine geholt. Erst ins Kinderheim. Dann kriegte sie Pflegeeltern. Heut weiß ich nich mal, wo sie is.«
»Ich glaube nicht, daß ich was damit zu tun hatte.«
»Nee, ich weiß. Aber es kann doch sein, daß ich mich daher an dich erinner.«
»Ja. Vielleicht«, sagte ich neutral. Ich mochte ihr nicht sagen, daß wir in der Volksschule in Parallelklassen gegangen waren. Es würde ihr vielleicht nicht gefallen, daß sich jemand daran erinnerte, wie sie vor langer Zeit gewesen war. Sie war ein schönes junges Mädchen, damals, nur ein bißchen wild. Und das war vor dreißig Jahren, ungefähr zu der Zeit, als Pfau abbrannte.
»Ach ja, hier sitzen wir und uns geht’s gut«, sagte RiesenOlsen und leerte sein Glas, bevor er sich einen neuen Schnaps eingoß.
›Brandstelle‹ war drüben im Lehnstuhl still geworden. Er starrte vor sich hin, ohne zu sehen, ohne zu hören. Die Dame in der Küchentür saß noch immer mit der Topfpflanze im Schoß, als hätte sie es aufgegeben, einen Platz dafür zu finden.
»Die Menschen können einem leidtun«, sagte die Freundin von Riesen-Olsen. Lisbeth hieß sie, und ich erinnerte mich immer deutlicher an sie. Sie war in die sechste Klasse gegangen, und ein paar der Jungs hatten in einem der neuen Gebäude, die noch im Bau waren, mit ihr schlafen dürfen. Wir anderen wurden mit den lebhaftesten Beschreibungen ihrer vielen Vorzüge gefüttert. Jetzt hatte sie sich endlich auf den Boden gesetzt, und wenn ich frech genug gewesen wäre, hätte ich wenigstens eine der Beschreibungen überprüfen können.
Ja, die Menschen konnten einem leidtun. Mädchen wie Lisbeth konnten einem leidtun, für die wir eine Art ängstlicher Verliebtheit empfunden hatten, wir, die damals, so früh im Leben zu den Zurückhaltenden gehört hatten. Mädchen wie Lisbeth konnten einem leidtun, mit ihrem damals langgestreckten, linkischen Jungmädchenkörper, in Strickjacke und Baumwollrock und mit einem tiefen, männlichen Lachen … Schade, daß sie dreißig Jahre später hier auf einem Kellerfußboden hockte und die Menschen und sich selbst bemitleidete.
Und ›Brandstelle‹ konnte einem leidtun, dem durch die Gleichgültigkeit anderer Menschen das Gesicht und damit sein Leben zerstört worden war. Riesen-Olsen konnte einem leidtun, ein schlecht zugeschnittener Däumling, der seinen Partnerinnen nicht höher reichte, als daß er ihnen gerade in die untersten Haare beißen konnte. Die Dame mit der Topfpflanze konnte einem leidtun, weil sie zum Monopol geschickt wurde, während andere

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