Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
liebten; und konnte ich einem nicht eigentlich auch leidtun, wie ich da saß, Genever im Glas, eine lichte Ahnung hinter der Stirn und eine Reihe von unaufgeklärten Verbrechen auf dem Programm?
Ich sah auf die Uhr. Ein paar Stunden waren vergangen, seit wir bei Olga Sørensen gewesen waren. Es war nicht sehr viel gesagt worden und auch nicht sehr viel getrunken. Wir hatten im Kellerdunkel gesessen und das Tageslicht seinen rechteckigen Abdruck über den Boden bewegen gesehen, Stück für Stück. Das Licht fiel durch ein schmales Fenster, mit Kaninchendraht davor, und durch das Fenster konnten wir die Schuhe der Leute sehen, die oben auf dem Gehsteig vorbeigingen.
Lisbeth schlief halb in ihrer Ecke, der Mund öffnete sich, die Lippen wurden weich wie bei einem Kind: pitt-pitt-pitt sagte es aus ihrem Mund. Riesen-Olsen legte seinen freien Arm um ihre Schultern und stützte sie. Einen Augenblick lang schien es mir, als sähe ich einen Anflug von Zärtlichkeit in seinem Blick, dann nahm er sich zusammen und schickte mir einen ironischen Augenaufschlag, wie um zu sagen: Guck, womit ich mich rumzuschlagen hab!
›Brandstelle‹ saß und murmelte vor sich hin. Die Frau in der Küchentür strich der Topfpflanze weich über die Blätter: zarte, süße Liebkosungen.
Ich erhob mich steif von der Bierkiste, stellte das leere Glas darauf ab und streckte mich.
›Brandstelle‹ sah plötzlich auf. »Willst du los?«
»Ich glaub, ich versuch’s noch mal bei Olga«, sagte ich.
Er nickte. »Ich bleib hier«, sagte er.
Ich holte ein Stück Papier hervor und schrieb meine Büroadresse und die Telefonnummer darauf.
»Falls dir noch mehr einfallen sollte, meld’ dich bei mir.«
»Noch mehr? Wozu?«
»Zum Brand.«
»Ach der … Dazu gibt’s nix mehr zu sagen.«
»Nein, nein, nur für den Fall.«
Er nickte. »Grüß mal die Olga.«
»Ja, grüß mal!« stimmten die anderen zu. Lisbeth hatte die Augen wieder geöffnet.
Ich nickte in die Runde und verließ sie. Als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich Lisbeths Stimme: »Ich frag mich, woher ich den da kenn. Ich weiß, ich hab ihn schon mal geseh’n.«
Der Übergang vom Halbdunkel zum Licht war blendend. Es war, als käme ich hinaus in eine neue Welt, weißgewaschen und strahlend, direkt aus der Waschmaschine zum Trocknen aufgehängt, zum Ansehen für Kellermenschen. Aber nur ansehen, nicht berühren.
30
Auch dieses Mal öffnete niemand die Tür, an der Jensen stand. Ich lehnte mich mit meinem vollen Gewicht gegen die Türklingel, wie ein nostalgischer Vertreter, der in dieser Wohnung einmal ein paar Damenstrümpfe verkauft und danach die Hoffnung nie aufgegeben hat. Es klingelte, daß selbst lote hätten aufwachen müssen, aber niemand kam und öffnete, und zum Schluß mußte ich aufgeben.
Ich ging langsam die Treppen hinunter. Eine der Türen im Erdgeschoß öffnete sich leise einen Spalt und über einer Sicherheitskette starrten ein Paar neugierige Augen zu mir hinaus. Als ich ihrem Blick begegnete, wollte sie die Tür sofort wieder schließen. »Heh, warte«, sagte ich. »Mach nicht zu.«
Sie machte nicht ganz zu. Die Nase war groß und spitz über der blanken Kette, die Haut alt und faltig. Die Augen waren blauschwarz und pfiffig und ich dachte: Die altbekannte, wache Dame im Parterre, immer zur Stelle, immer zu Diensten.
Ich kam direkt zur Sache. »Verzeihung, Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wo sich Fräulein Sørensen aus dem ersten Stock aufhält?«
Sie schüttelte den Kopf und sah mich wißbegierig an. »Worum geht es?«
»Ich sollte ihr einen Gruß überbringen, von einem alten Bekannten …«
»Ach wirklich?« Sie sah nicht aus, als würde sie mir glauben.
»Ist sie oft weg, lange?«
Abrupt sagte sie: »Sie hatte auch gestern Besuch. Vielleicht ist der Gruß schon überbracht.«
»Wer ist denn dagewesen?«
»Das weiß ich nicht. Aber es war ein Herr. Ich hab ihn nur von hinten geseh’n, als er ging.«
»Wie sah er aus? Hatten Sie ihn schon mal gesehen?«
»Nein. Es war so dunkel. Es war abends und er war ganz normal gekleidet. Hut und Mantel, schönes Zeug.«
Ich spürte eine Unruhe zwischen den Schulterblättern heraufkriechen. »Keine Kennzeichen? Nichts Besonderes, was Ihnen auffiel?«
»Ich weiß nicht …«
Zögernd sagte ich: »Es war nicht was – an der Art, wie er ging?«
Sie schien nachzudenken. Dann leuchtete ihr Gesicht plötzlich auf.
»Doch, jetzt, wo Sie es sagen – ich glaube tatsächlich, daß er das eine Bein nachzog. Ja, er hinkte.«
Im
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