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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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geschehen.«
    Die frustrierten Politiker des äußeren rechten Rands, die sich in ihrer Karriere noch nie als Garanten der Demokratie erwiesen hatten, bedienten sich vor laufenden Fernsehkameras harter Worte gegen die Indignados, welche die prächtige, von Regierungsgebäuden umsäumte Piazza dell’Unità d’Italia in einen Campingplatz verwandelt hatten. Sie fühlten sich von der Realität des gemeinen Volks in ihrem Frieden heftig belästigt.
    Etwa zweihundert Jugendliche, Schüler und Studenten, hielten die Piazza seit dem Wochenende besetzt, schliefen in Zelten und hatten ihre Transparente aufgehängt, auf denen sie ihr Unbehagen und ihre Zukunftsangst kundtaten. Die Schulgebäude waren heruntergekommen; dem Bildungssystem wurden erneut Etatkürzungen zugemutet; Arbeitsplätze gab es, wenn überhaupt, nur befristet; die Stadtwerke verlangten gesalzene Preise für Strom, Gas und Wasser; Einsparungen erfolgten im Sozialen, die Rüstungsausgaben blieben dafür unverändert hoch, während die einfachen Leute nicht wussten, wie sie ihre Familien bis zum Monatsende durchbringen sollten.
    »Clowns und Hurenböcke regieren unser Land«, brüllte ein Wortführer ins Megafon. Der Mann war deutlich älter als die Demonstranten, die bunte Nasen im Gesicht und Damenslips auf dem Kopf trugen. »Wir wollen, was uns zusteht. Keine Profite auf dem Rücken der Schwächeren. Schluss mit der Spekulation. Wir fordern Zukunft.«
    Proteo Laurenti staunte, nachdem er am Dienstagmorgen auf dem Weg ins Büro den Alfa Romeo auf dem Parkplatz des Grandhotels abgestellt hatte, um nachzusehen, was sich auf der Piazza tat, auf der noch einige Regenpfützen standen. Nach dem nächtlichen Gewitter war die Luft kühl und der Himmel noch grau verhangen.
    »Die Ärmsten begleichen die Rechnung«, rief der Mann mit dem Megafon. »Arme sind gut für die Wirtschaft, denn sie geben alles aus, sie können kein Geld zurücklegen. Sie bezahlen Mehrwertsteuer, Tabaksteuer, Alkoholsteuer. Kürzt die Bezüge der Politiker, halbiert das Parlament. Keine Steuergelder mehr für die Parteien. Wir wollen Zukunft.«
    Je eine Einheit von Polizisten und Carabinieri wartete in Kampfanzügen, mit Helmen, Schutzschildern und Schlagstöcken gerüstet, auf die Anweisung, den Platz zu räumen. Die Demonstranten waren kreativ und friedlich, ihre T-Shirts leuchteten in Regenbogenfarben, andere waren mit der Friedenstaube bedruckt. Ein Dutzend von ihnen hatte sich direkt vor den Ordnungshütern aufgebaut, von denen manche sich kaum das Lachen verkneifen konnten. Von diesen jungen Menschen ging nicht die geringste Gefahr aus.
    Laurenti erstarrte: Mittendrin stand Marco und zeigte zusammen mit seinen Freunden den Polizisten den nackten Hintern. Seit wann gehörte sein Sohn zu den Frühaufstehern?
    »Ihr könnt zwar den Platz räumen, aber aufhalten werdet ihr uns nicht«, rief Marco im Chor.
    »Schande, schämt euch. Stopp«, brüllten einige Erwachsene, die neugierig am Rand standen, entrüstet den Polizisten entgegen, als die erste Einheit der Ordnungshüter sich in Bewegung setzte.
    Die Fotografen der Lokalmedien spielten in der vordersten Linie Robert Capa im Spanischen Bürgerkrieg. Laurenti wählte die Nummer seines Büros, nach langem Klingeln meldete sich die Telefonzentrale der Questura. Wo war Marietta? Er wählte ihre Mobilnummer.
    »Ich sehe dich.« Seine Assistentin antwortete nach dem zweiten Klingeln. »Dreh dich um.«
    Er legte auf, Marietta stand direkt hinter ihm.
    »Recht haben sie«, sagte sie.
    »Wer?«
    »Die Demonstranten natürlich.«
    »Welcher Idiot hat angeordnet, den Platz zu räumen? Die Kids tun keiner Fliege etwas zuleide.« Laurenti schüttelte aufgebracht den Kopf.
    »Entweder die Polizeipräsidentin oder der Präfekt.«
    »Wir machen wieder einmal eine phantastische Figur.«
    »Dein Sohn ist auch dabei.« Marietta winkte Marco zu, der nun auch seinen Vater sah. Der Junge tippte sich wütend an die Stirn und rief ihm etwas Unverständliches zu.
    Die ersten fünf Demonstranten wurden an Armen und Beinen von der Piazza getragen.
    »Lasst die Hände von unseren Kindern«, riefen empörte Zuschauer. »Basta, schämt euch.«
    Marietta hüpfte von einem Bein aufs andere, es fiel ihr schwer, nicht mit einzustimmen. Doch gegen die eigenen Kollegen durfte sie sich nicht wenden, und außerdem waren ihr im Dienst politische Stellungnahmen untersagt. Laurenti war drauf und dran, die Polizeipräsidentin anzurufen und ihr die Meinung zu sagen, doch die

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