Im Fadenkreuz der Angst
ziehen.
»Also …«, sagt er nach einer halben Ewigkeit.
»Also.«
Er spuckt den Splitter aus. »Sammy …«
»Ja?«
»Hab ich irgendwas verpasst?«
»Wie?«
»Bist du stinkig auf mich oder so?«
»Nein«, lüge ich. »Warum?«
»Weiß nich. Hab nur irgendwie so ’n Gefühl.«
( Er
hat ein Gefühl?) »Also ist zwischen uns alles okay?«
»Ja«, sage ich, »klar doch.«
»Gut.« Pause. »Weil, du sagst mir, wenn’s ein Problem gibt, oder?«
»Marty, jetzt hör doch mal auf.«
»Aber du sagst es mir, oder? Manchmal, da mache ich was Blödes oder ich sage was Blödes – ich weiß, dass ich Leute echt vor’n Kopf stoßen kann. Das will ich aber nicht.«
»Ich weiß.«
Stille.
Wir hören die Boote auf dem Wasser brummen. Lachen vom Strand. Ein Hund bellt.
Ich gucke zum Haus. »Was macht Andy bloß so lange?«
»Na, was wohl.« Marty flüstert, als müsste ich es wissen, aber das tue ich nicht. »Das macht er, seit er es rausgefunden hat. Erst albert er rum, als wär alles kein Problem. Aber dann – boing – erwischt es ihn volle Kanne. Dann geht er aus dem Unterricht, verkriecht sich auf dem Klo, bis er wieder okay ist.«
Was meint Marty mit:
Seit er es rausgefunden hat?
Was soll das heißen,
wieder okay ist?
Marty seufzt. »Der kann richtig gut was für sich behalten.«
Wieso denn? Ich sterbe vor Neugierde, aber ich kann nicht fragen. Wenn ich es tue, dann weiß Marty, dass Andy es mir nicht erzählt hat. Und warum hat er es mir nicht erzählt, wenn wir so gute Freunde sind? Meine Haut wird feucht vor Schweiß. Wenn ich Andy nicht kenne, wen kenne ich dann überhaupt?
»Klar«, töne ich. »Der kann echt die Klappe halten.«
Marty kratzt sich. »Ich wäre völlig am Ende, wenn ich an seiner Stelle wäre. Andy hat seinen Vater immer so bewundert. Wusstest du, dass seine Mutter Tabletten nimmt?«
»Übel«, sage ich, als wäre mir das längst bekannt.
Andy kommt aus dem Haus gerannt. »Wir können los.«
Marty und ich springen auf. »Super!« Aber ich denke :
Was ist los, Kumpel? Was ist mit deinen Eltern?
Die Sonne ist weg. Der Himmel ist grau, ein paar vereinzelte Wolken leuchten stumpf in Orange, Rosa, Lila.
Andy nimmt seinen Platz hinter dem Steuerrad ein. Marty springt an Bord und setzt sich neben Andy, derden Motor anlässt. Ich schiebe uns ab und setze mich hinter die beiden.
»Einsiedlerinsel, wir kommen!«, johlt Andy.
»Aye, aye, Captain«, echot Marty.
Wir gleiten hinaus in die Dunkelheit.
9
Die Jungs erzählen Witze, während wir durchs Wasser knattern. Wegen des Motorenlärms bekomme ich nicht viel mit, aber ich lächle pflichtgemäß und strecke den Daumen hoch, sobald sich einer von ihnen nach mir umdreht.
Der Wind beißt mir in die Haut. Ich verkrieche mich in meine Jacke und schaue über den dunklen Fluss. Lichter funkeln von den Straßen und Städten auf dem Festland und von den Ferienhäusern an den Ufern, bilden einen Ring um das Gewirr der vielen kleinen Inseln, das uns jetzt verschluckt. Es leuchten auch die Lampen der Boote, die durch die Passagen navigieren: Segelboote, Fischerboote, Motorjachten, jedes von ihnen mit seinem Signalhorn, mit seiner Glocke, mit seiner Mischung aus Lachen, Musik und Motortuckern.
Ich verliere mich in der nächtlichen Stimmung und habe keinerlei Orientierung mehr. Doch Andy, der jeden Sommer seines Lebens hier zwischen den Inseln verbracht hat, hat die Karte genau im Kopf. »Jetzt sind wir wieder in amerikanischen Gewässern«, sagt er.Hier sind die meisten Ferienhäuser dunkel und verrammelt. »Diese Häuser gehören Millionären aus den Südstaaten, die nur im Sommer ein oder zwei Wochen hierherkommen, wenn’s bei ihnen zu heiß ist.«
Wir nähern uns einer Klippe mit Bäumen darauf. Andy geht mit der Geschwindigkeit runter und lenkt das Boot zwischen zwei Felswände. Wir halten uns rechts, biegen dann nach links und gelangen in eine Wasserstraße, die von fünf Inseln flankiert wird. Andy stellt den Motor aus. Wir treiben mit dem Strom. Es ist still hier, man hört nur ein fernes Brummen und dazu das Plätschern der kleinen Wellen, die sanft an unser Boot und an die Ufer der Inseln schwappen.
»Diese Inseln hier gehören alle der Familie Stillman«, sagt Andy. »Ich glaube, die sind aus Tennessee. Jede Insel hat ein Haupthaus, also, mehr eine Villa, und dann noch Gästehäuser und andere Gebäude, die alle zur anderen Seite des Flusses gucken. Vor ein paar Jahren hat sich der alte Stillman das Gehirn weggepustet.
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