Im Feuer der Nacht
vier Monaten hatte sie sich in ärztliche Behandlung begeben, nachdem sie fast einen Tag in einem Dämmerzustand zugebracht hatte. Von da an war es nur noch bergab gegangen. So sehr, dass sie ihren Job bei Shine quittieren wollte, sobald sie Jonquil gefunden hatte. „Die Ärzte waren sich einig, dass mein Gehirn nicht mehr richtig arbeitet. Es ist fast, als würden die Zellen zerfressen.“
„Warst du bei einem M-Medialen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Warum nicht? Sie sind nicht gerade sehr einfühlsam und zimperlich, können aber genauere Diagnosen stellen als normale Ärzte.“
„Ich wollte nicht– ich fühle mich unwohl bei ihnen.“ Jedes Mal wenn sie in die Nähe eines M-Medialen kam, zog sich allesin ihr vor Furcht zusammen. „Außerdem waren die anderen Ärzte sicher, die Medialen könnten mir sowieso nicht helfen.“
„Wir werden ja sehen.“
Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen– schließlich spürte sie, wie ihr Gehirn abstarb, Stück für Stück. Niemand würde das aufhalten können. „Unser erstes Ziel sollte sein, Jon zu finden“, sagte sie. Da würde sie keine Kompromisse eingehen. „Ich kann warten.“
Die Haut über seinen Wangenknochen war weiß geworden. „Wann wird dein Zustand kritisch?“
„Ist schwer vorauszusagen.“ Das war im Grunde keine Lüge. Die Ärzte hatten ihr zwischen sechs und acht Monaten gegeben. Aber in ihrer Diagnose waren sie sich einig gewesen: Unbekannte neurologische Erkrankung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Absterben der Zellen führen kann. Risiko für einen tödlichen Hirnschlag– hundert Prozent. „Doch selbst wenn ich mein Todesdatum genau wüsste, würde Jon an erster Stelle stehen.“ Nicht einmal Clay würde sie davon abbringen können.
Er stieß sich von der Wand ab, starr vor Wut. „Rauf mit dir in den dritten Stock.“
Sie blieb, wo sie war. „Bin ich etwa ein Hund? ‚Rauf mit dir in den dritten Stock‘“, äffte sie ihn nach, im vollem Bewusstsein, dass sie den Leoparden damit provozierte.
„Du siehst wie eine dumme und vollkommen erschöpfte Frau aus“, schnauzte er. „Soll ich dich lieber eine Stunde lang anschreien?“
„Warum solltest du das tun?“
„Du hättest schon vor Jahren zu mir kommen sollen.“ Er wandte sich mit geballten Fäusten ab, und sie wusste, dass es nicht mehr um die Krankheit ging, die sie von innen her auffraß. „Dem Mädchen hätte ich vielleicht vergeben können, dass sie fortgerannt war.“
Der Frau aber nicht. „Was ist mit den Männern?“, fragte sie und läutete damit die Totenglocke für jegliche Hoffnung auf Freundschaft zwischen ihnen. „Kannst du mir die vergeben?“
Er schwieg. Das war Antwort genug. Doch sie fühlte keine Trauer, sondern nur blinde Wut. Das hatte sie nicht erwartet– welches Recht hatte sie, auf ihn wütend zu sein? Trotzdem war sie es. So wütend, dass sie das Zimmer verlassen musste, weil sie sich vor ihren nächsten Worten fürchtete.
9
Er hieß Jonquil Duchslaya, aber die meisten seiner Freunde nannten ihn Jon. Talin sagte manchmal Johnny D. zu ihm. Aber als er das letzte Mal Mist gebaut hatte und verhaftet worden war, hatte sie ihn Jonquil Alexi Duchslaya genannt.
„Noch ein einziges Mal, und du bist draußen.“ Ihre Augen waren wie schwarzes Eis, als sie vor dem Gerichtsgebäude standen. „Ich werde deine Strafe fürs Klauen nie mehr bezahlen und den Teufel tun und noch mal als Leumundszeugin vor Gericht auftauchen, damit du Bewährung bekommst.“
Er lächelte sie an, sicher musste sie nur ein bisschen Dampf ablassen. „Ach, komm schon–“
„Klappe.“ Sie hatte noch nie in diesem Ton mit ihm gesprochen. Schockiert gehorchte er. „Drei Chancen, mehr kriegt keiner von mir, Jonquil. Mehr habe ich nicht zu vergeben. Ich kann meine Zeit nicht an dämliche Diebe verschwenden–“
„Moment mal!“
„– die sich nicht die Mühe machen, meine Regeln zu befolgen“, hatte sie den Satz beendet und sich gar nicht mehr wie die sanfte, fürsorgliche Talin angehört, die er kannte. „Noch einmal, und du bist draußen. Dann kannst du damit anfangen, Gefängnistattoos zu sammeln.“
Bei der mitleidlosen Erinnerung daran, was aus den anderen Familienmitgliedern geworden war, zuckte er zusammen. Jeder einzelne war hinter Gittern gelandet. Inzwischen waren alle tot. „Du musst nett zu uns sein. Dafür wirst du bezahlt.“ Sie arbeitete für eine dieser großen, furchtbar netten Organisationen.
„Nein. Ich soll deine
Weitere Kostenlose Bücher