Im Feuer der Nacht
den letzten zehn Jahren hatte der Leopard die verlorene Zeit aufgeholt. Clay konnte immer noch so tun, als sei er ein Mensch, aber Blutdurst und ungezähmte Wildheit pulsierten gleichzeitig in ihm. Der Leopard fand die kalte Logik vom Überleben des Stärkeren richtig, konnte und wollte ohne Zögern töten. Und Clay war nicht besonders interessiert daran, diesen Teil zu unterdrücken.
Das war die wirkliche Gefahr.
Lucas hatte nie mit ihm darüber gesprochen. Ebenso wenig Nate. Aber beide wussten, dass es zwar von außen so aussah, als sei Vaughn seinem Tierwesen am nächsten, aber dass Clay am stärksten gefährdet war, zu einem wilden Einzelgänger zu werden… und nie mehr in seine menschliche Gestalt zurückzufinden.
Er schüttelte den Kopf mit einem wütenden Knurren, kletterte mit der Anmut seiner Gattung auf einen Baum und streckte sich auf einem Ast aus, von dem er das Licht in Talins Schlafzimmer sehen konnte. Wenn er wild werden würde, würde er jedes Recht verlieren, sie zu berühren. Dann würde er sich bedingungslos dem Tier hingeben und seine menschliche Seite in Vergessenheit geraten lassen. Doch obwohl ein Einzelgänger nichts mehr von der Person an sich hatte, die er einst gewesen war, würden ihm Fetzen von Erinnerungen bleiben. Die Angriffe eines Einzelgängers richteten sich deshalb unvermeidlich gegen sein früheres Rudel.
Seit Jahren kämpfte Clay gegen das andere Wesen in sich. Als er mit vierzehn so gewaltsam die menschliche Seite abgelegt hatte, die Islas zerbrechlicher Geist ihm aufgezwungen hatte, hatte ihn das für immer verändert. Er hatte erkannt, was er war und wozu er fähig war, hatte den Geruch von Angst und Blut kennengelernt und erkannt, dass ein Teil von ihm Gefallen daran fand. Geradezu triumphierte.
Vier Jahre in der Jugendstrafanstalt hatten das Tier in ihm nur noch wütender gemacht. Am Tag seiner Entlassung war er auf blutige Jagd gegangen. Er hatte drei Hirsche erlegt und nur durch einen glücklichen Zufall Tiere und nicht Gestaltwandler erwischt. Damals war er so hilflos und unsicher gewesen, hatte so wenig über seine Herkunft gewusst, dass er noch nicht zwischen beiden Arten unterscheiden konnte. Genau genommen war er damals, nachdem er achtzehn Jahre lang seinen Blutdurst unterdrückt hatte, zu gierig gewesen, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.
Mit der Zeit war es ihm immer besser gelungen, sich zu beherrschen. Die Tatsache, dass er ein Wächter der DarkRiver-Leoparden geworden war, sprach für sich. Aber in sich spürte er ein drängendes Verlangen. Er wusste, dass Tally seine größte Schwäche war und damit etwas, das ihn vernichten konnte. Seine Gefühle für sie– der Wille, sie zu beschützen, Wut und Zuneigung– brauten sich zu einer gefährlichen Mischung zusammen. Jedes Zurückgewiesenwerden brachte ihn dem Zustand als ungezähmtem Einzelgänger näher. Aber heute hatte sie seine Nähe geduldet und erstaunliche Gefühle in ihm ausgelöst.
Ungeheuer heftige sexuelle Gefühle.
Schon von dem Moment an, als sie wieder in sein Leben getreten war, hatte er sich als Mann von ihr angezogen gefühlt. Aber ihr Misstrauen hatte diese Anziehung zu einer Begierde gemacht, die ihn innerlich zu zerreißen drohte– sein Geschlecht so hart werden ließ, dass er sie nur noch besitzen, ihr sein Zeichen aufdrücken wollte. Aber er wusste zu viel von Tally. Sie war von den Menschen missbraucht worden, die sie hätten schützen sollen. Vertrauen und Sex passten für sie nicht zusammen. Wenn er sie in diese Richtung drängte, würde er ihr auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung rauben.
Außerdem waren da noch die anderen Männer. So viele, dass sie sich nicht einmal mehr an die Namen erinnerte.
Er brüllte wieder auf, wild und gefährlich.
Wie war das alles nur gekommen? Warum hatte Tally sich bloß so billig verkauft?
Im Schlaf gefangen, verzog Talin das Gesicht, drehte sich auf die andere Seite und fand anscheinend wieder etwas Ruhe. Ein paar Minuten später jedoch begann alles wieder von Neuem. Wieder drehte sie sich um. Und noch einmal.
Ihr innerer Frieden schien gestört, irgendetwas trieb Schauer über ihren Körper und schnürte ihr den Hals zu. Nach Luft schnappend, setzte sie sich auf. Sie schrie nicht. Das tat sie nie. Hatte sie noch nie getan. Nicht einmal als Kind.
Fünf lange Minuten saß sie einfach nur da, Adrenalin schoss durch ihren Körper, als sie jeden Zentimeter des hell erleuchteten Raumes absuchte. Erst als sie sich überzeugt
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