Im finsteren Wald
jagen. Angst hatte er keine. Das Gerede der Alten, den Wald zu meiden, da es dort nicht geheuer war, scherte ihn nicht. Im Wald verschwanden Leute und tauchten nie wieder auf, hieß es. Im Wald war etwas, etwas Unheimliches. Das konnte doch kein normaler Mensch glauben und Otto kannte nur eine Person, die im Wald verschwunden sein sollte. Der Bruder der Jokisch war vor Jahren hineingegangen und nicht wieder heimgekommen. Doch er vermutete, der Bursche war abgehauen, weg aus dem langweiligen Kaff und rein in eine tolle Großstadt.
Seine Lust auf die Jagd hielt sich in Grenzen, doch dem Dummschwätzer Jenner würde er es zeigen. Also zog er durch den Wald und suchte den verflixten Vogel. Die Kälte wühlte sich in seine Knochen und dunkel war es zwischen den Bäumen. Unterholz versperrte die Sicht, er musste aufpassen, nicht die Orientierung zu verlieren und ständig schaute er sich um, ob er den Fasan erspähte. Der Wald bewegte sich und lebte, es rauschte, zischte, knarrte und knackte. Das Knacken nahm zu und Otto fragte sich, was oder wer die Äste zerbrach. War er nicht allein?
Was dann geschah, bekam er nicht mehr zusammen. Es muss ganz schnell gegangen sein. Und nun hing er hier an diesem Ast und das Leben verließ ihn mit dem roten Saft, der aus seiner Bauchwunde strömte. Woher er sie hatte und was genau passiert war, es lag im Dunkeln. Er konnte sich nicht mehr erinnern.
So kam er nicht weiter. Otto blickte auf und sah in ein Dutzend oder mehr Augenpaare, die ihn im schwachen Dämmerlicht anstarrten. Waren das Leute? Er wollte etwas sagen, um Hilfe bitten, doch er brachte es nur zu einem Wimmern.
‚Reiß dich zusammen, verdammt!‘, befahl er sich und versuchte es erneut: „Bitte, ich brauche Hilfe, helfen Sie mir!“
Noch immer spürte er Blut aus der Wunde rinnen, es lief warm über seinen Unterleib und rann die Beine hinab. Die Augen waren weiter auf ihn gerichtet. Sie waren zu tief, gehörten sie Tieren? Sein Blick begann sich zu trüben und Kälte krallte sich in sein Herz. Die Gedanken versanken in aufwallendem Nebel, zogen sich zurück und lösten sich auf wie Morgendunst im Licht der aufgehenden Sonne. Der Schmerz ließ nach, doch die Kälte fraß sich in ihn hinein. Die Umgebung, die Augen, die ihn noch immer anstarrten, alles zog sich zurück; auch sein Leben.
2
Er schaute sie aus dunklen Augen an und sein Blick berührte sie wie ein sanftes Streicheln auf der Haut. Zärtlich fuhr Edward über ihr Haar, dann kam sein Gesicht noch näher, sie spürte seine kühlen Lippen am Hals . Heiße Schauer rieselten ihren Rücken hinunter, immer tiefer und … Rums.
Ein weiterer Krater auf der vermaledeiten Straße riss Tina aus ihren Träumereien. Erschreckt schaute sie vor zu ihrem Vater, der verkrampft das Lenkrad des betagten Golfs umklammerte. Ihre Mutter federte in ihrem Sitz vor und zurück und schrie ängstlich: „Peter, pass doch auf! Willst du uns hier alle umbringen?“
„Aufpassen ist gut! Entschuldige Karin, ich wusste wirklich nicht, dass in dieser Ecke die Wende noch nicht angekommen ist.“
‚Na hoffentlich kommen wir überhaupt noch an‘, dachte Tina flüchtig und starrte wieder auf ihren Kindle. ‚Ein Wahnsinnsteil, so ein E-Book-Reader. Schade, dass Paps und Mam so knapp bei Kasse sind, der neue Paperwrite hätte sogar ein beleuchtetes Display gehabt.‘
Die Augen leicht zusammen gekniffen, starrte Peter angestrengt nach vorn. Die schmale Holperpiste wurde schlechter und er war froh, keinem entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen zu müssen. Inzwischen schaukelte der Wagen wie eine Boje bei Sturm. Er fuhr langsamer und wünschte sich, endlich am Ziel anzukommen. So schlecht hatte er sich das letzte Stück der Strecke, das auf der Karte nur noch als kleine weiße Linie dargestellt gewesen war, nicht vorgestellt.
„Paps, wann sind wir denn nun endlich da? Ich muss meinen Kindle aufladen, der Akku ist fast leer.“
„Dann leg das Ding weg und sieh dir die schöne Landschaft an, wer weiß schon, wann wir wieder mal nach Thüringen kommen“, blaffte ihre Mutter sie an und wischte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn, sie war froh, nicht an Peters Stelle fahren zu müssen. „Du musst doch jetzt nicht lesen. Hast du die Schafe eben gesehen?“
„Ja, toll“, murmelte Tina und wandte den Blick nicht vom Reader.
Peter schickte einen Blick zum Himmel, über den die Wolken schneller dahinjagten, als sie mit dem Auto auf der Straße vorankrochen. „Das war eben Bad
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