Im Funkloch
leise, dass nur ich es verstehen konnte. »Sechs Tage sind eine lange Zeit . . . rück den Schlüssel raus.«
Damit drehte er ab und ließ sich wieder auf seinen Platz fallen.
Ich atmete durch und versuchte den Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben, dass Lucas sichwahrscheinlich schon originelle Foltermethoden für mich überlegt hatte. Unglaublich, in was für eine Scheiße ich geraten war. Aber es war auch meine eigene Schuld.
»Hast dich ja super geschlagen, Samuel«, flüsterte Kevin neben mir. »Der hat sich vor Angst fast in die Hose gemacht. Was hat er denn eben noch zu dir gesagt?«
»Ach, nur der übliche Müll«, sagte ich leichthin.
Lucas rülpste so laut, dass der Bus bebte. Einige Typen lachten daraufhin wie Hornochsen – genau diejenigen, die sich gern hinter Lucas' Rücken verkrochen und sich jetzt gerade in den letzten Reihen in seinem wortwörtlichen Dunstkreis aufhielten. Ich verfluchte diese Feiglinge – und mich gleich dazu, denn wären wir vor den Sommerferien gefahren, wäre ich wahrscheinlich noch einer von ihnen gewesen und hätte auch gelacht.
Ich musste an die Klassenfahrt im letzten Sommer denken. Da war ich noch auf meiner alten Schule in der Rhön gewesen. Wir waren nach München gefahren. Schon auf der Hinfahrt hatten alle durcheinandergeredet, alle waren aufgekratzt. Die fünf Tage waren einfach toll.
Jetzt, bei dieser Klassenfahrt, saß ich im Bus und starrte den Sommerregen an, der gegen die Scheibe prasselte. Alle tuschelten nur mit dem Sitznachbarn.Ich fühlte mich wie in der S-Bahn umgeben von lauter Fremden. Letztes Jahr im Sommer hatte ich noch auf dem Land gewohnt und war bestenfalls ein Mal im Jahr nach Frankfurt gekommen – jetzt wohnte ich in der Stadt und fuhr zur Klassenfahrt in die Pampa . . .
Unser Bus war zweigeteilt. In der hinteren Hälfte saßen wir Realschüler. Vorne . . . die anderen. Keiner von uns war begeistert gewesen, als Passlewski verkündet hatte, dass wir mit der 10 a auf Klassenfahrt gehen sollten – mit den Gymmis. Wir wären lieber mit der 10 c gefahren, der anderen Realschulklasse. Zur Not sogar lieber mit der Hauptschulklasse. Aber wir konnten es uns ja nicht aussuchen. Die Gymmis waren sicher genauso wenig davon begeistert. Aber die mussten auch damit leben, dass es zu teuer geworden wäre, wenn sie alleine gefahren wären.
Klar hatten einige von uns Bekannte in der Gymmi-Klasse, aber richtige Freundschaften gab es nur wenige. Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass wir uns in der Wildnis des Hohen Meißner wirklich näherkommen würden, auch wenn unsere Lehrer sich das sicher versprachen.
Und genau genommen, ich mir auch . . . zumindest in Bezug auf eine bestimme Person aus der 10 a.
Wir – die Realschüler – waren heute Morgen gleich in den Bus gestürmt, hatten die Rückbank und denganzen hinteren Teil übernommen. Deswegen saßen die Gymmis vorne, in der Nähe der beiden Lehrer.
Im gefühlten Schneckentempo gondelten wir über die Autobahn. Als wir an einem braunen Schild »Ehemalige innerdeutsche Grenze« vorbeikamen, brüllte einer von Lucas' Kumpanen: »Hey, Offline, da können wir dich ja gleich zu Hause abliefern und den Zaun wieder aufbauen!« Ein vielstimmiges Grölen ertönte von der letzten Sitzreihe.
Ich vergewisserte mich mit einem Seitenblick zu Kevin, dass er – wie immer – solche Sprüche an sich abprallen ließ.
Bei der Abfahrt Wildeck-Obersuhl verließen wir die Autobahn. Die Landstraße, der wir dann folgten, war eng und kurvig, führte durch einen Laubwald. Und der schien endlos zu sein. Kevin und ich schauten uns die Dörfer an, die wir durchquerten. Ich musste mich beherrschen, nicht dauernd hinter mich zu schauen, ob Lucas wieder mit irgendwas auf mich zielte. Offenbar hatte er für den Moment das Interesse an mir verloren.
Im Vorbeifahren las ich ein Ortsschild mit einem besonders dämlichen Namen, und ohne darüber nachzudenken, rief ich aus: »Richelsdorf!«
Das löste zumindest in meiner unmittelbaren Nähe Heiterkeit aus.
Kurz darauf kam von der anderen Seite des Busses:»Krauthausen!« Jetzt grölten ein paar von uns lauthals, und auch von vorn waren einige Lacher zu hören. Dann herrschte wieder eine Zeit lang Stille, aber als einer der Gymnasiasten Niddawitzhausen entdeckte, war endgültig Schluss. Endlich kam Stimmung auf. Und ich war froh, dass es nicht gleich wieder leiser wurde. Einige knieten sich auf die Sitze, um mit den Leuten in der Reihe hinter sich zu reden.
Tina war eine
Weitere Kostenlose Bücher