Im Funkloch
Vielleicht sehe ich an einem fremden Ort aber auch nur genauer hin. Eigentlich ist die Schule zu Hause auch nicht sauber.
Zu Hause. So werde ich bald das Frankfurter Nordend nennen.
Nennen müssen.
Ich kann es mir nicht vorstellen, als wäre alles noch ganz weit weg. Aber das ist es nicht. Schon in drei Wochen werde ich hier Schüler sein. Es kommt mir vor wie ein Traum . . . ein Albtraum.
Die Tür wird wieder geöffnet und die Sekretärin kommt raus. »Es tut mir leid, Herr Passlewski ist noch nicht da. Ich hatte ihm eigentlich mitteilen lassen, dass er nach seinem Unterricht herkommen soll, um Ihnen die Schule zu zeigen.«
Ich nicke nur und wundere mich, dass man hier von der Sekretärin gesiezt wird. Vielleicht macht sie das aber auch nur, weil sie mich nicht kennt.
»Eigentlich ist Herr Passlewski bei seinen Terminen sehr zuverlässig. Vielleicht hat er noch . . . ah, da kommt er!«
Ich schaue den Flur entlang und sehe einen kleinen, dicken Mann eilig näher kommen. Er trägt eine Tasche, wie ich sie bisher nur bei Ärzten gesehen habe, eine helle Hose und ein Hemd, das aussieht, als hätte er es gerade von der Reinigung geholt. Seine Glatze leuchtet regelrecht, und als er näher kommt, höre ich ihn schnaufen. »Entschuldigung«, stößt er aus, stellt die Tasche ab und rückt seine Brille zurecht.
Etwas Blut fließt ihm aus der Nase in seinen Schnauzbart.
»Äh . . .«, sagt die Sekretärin und deutet auf seine Nase. »Sie bluten . . .«
»Oh«, entfährt es dem Lehrer. Er kramt ein Taschentuch hervor, das schon reichlich rot ist, und tupft seine Nase ab. »Ich weiß auch nicht«, sagt er. »Hat plötzlich angefangen.«
»Möchten Sie vielleicht . . .«
»Nein, nein, schon in Ordnung«, er winkt ab, stopft sein Taschentuch zurück. Nun schaut er mich zum ersten Mal an. »Also – du bist Samson«, sagt er und streckt mir die Hand hin.
Sofort muss ich an ein riesengroßes Zottelwesen denken. »Samuel«, sage ich und ergreife die Hand.
»Samuel. Entschuldige.«
Ich bin viel zu froh, wieder geduzt zu werden, als dass ich es ihm übel nehme.
»Also«, sagt die Sekretärin, »Sie übernehmen ihn dann?«
Der Lehrer nickt. »Deine neuen Klassenkameraden haben schon Schulschluss, die wirst du also erst nach den Ferien kennenlernen. Aber ich kann dir die Schule zeigen und das Klassenzimmer.«
»Der Stundenplan«, erinnert die Sekretärin.
»Ja, den natürlich auch«, sagt Herr Passlewski leicht genervt.
»Gut«, sagt die Sekretärin ungerührt und wendet sich zum Gehen. »Also, Samuel, dann sage ich schon mal jetzt . . . willkommen an unserer Schule.«
Willkommen im Funkloch
Die Bustüren wurden zischend geöffnet und der Waldduft wehte rein. Mir fiel sofort auf, wie viel kühler die Sommerluft hier war im Vergleich zu Frankfurt. Aber auch hier war es ein verflucht warmer August.
Passlewski war schon ausgestiegen und ging mit seinem Dackel an der Leine die Steintreppe zum Haupteingang hinauf.
Das Landschulheim war mitten im Wald am Berghang. Immerhin war es vor dem Haus flach, dahinter ging es wieder steil bergauf. Von außen machte das Gebäude den Eindruck, genauso feucht und kühl zu sein wie der Wald, in dem es stand. Ich schaute in die andere Richtung. Den Berg hinunter sah ich nur Nebel, der die Bäume verschluckte, aber auch bei klarer Sicht gab es in dieser Richtung vermutlich kein einziges Haus. Waldkappel musste in der Nähe sein, aber auf der anderen Seite dieses Hügels. Kurz gesagt: Wir waren im Niemandsland.
Alle blieben auf ihren Plätzen. Niemand rührte sich. Offenbar war keiner scharf darauf, das Landschulheimvon innen kennenzulernen. Auch ich wünschte mir in diesem Moment, der Bus würde einfach kehrtmachen, so wenig einladend sah der Schuppen aus. Nur die Aussicht, eine Woche mit Tina unter einem Dach zu sein, machte mir Mut.
»Leute – ich hab null Balken!« Der Ausruf kam von Janka – Tinas bester Freundin –, die noch immer auf ihrem Platz im vorderen Teil des Busses kniete und nun fassungslos ihr Handy anstarrte.
Ein hektisches Kramen in Hosentaschen und Rucksäcken war die Folge – und eine schockierte Stille. Nur Kevin neben mir ließ sich nicht stören – er war immer noch in das Fußballspiel vertieft.
»Aber ich bin doch im D-Netz!«, rief Janka empört.
Niemand hatte Empfang. Immer mehr Handys wurden hochgehalten und verglichen, doch niemand hatte auch nur einen Balken. Einige versuchten trotzdem einen Testanruf. Doch an ihren Gesichtern sah ich, dass
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