Im Gewand der Nacht
ist es auch lieber, wenn er am Leben bleibt.«
»Gut.« Ardiç lächelte und ging Richtung Treppe. »Sie müssen noch darüber nachdenken, durch wen Sie Tepe ersetzen wollen. Es erscheint Ihnen vielleicht verfrüht …«
»Ich hätte gern jemanden, dem ich vertrauen kann«, sagte İkmen, als er den Polizeipräsidenten eingeholt hatte. »Ich denke, eine Frau wäre vielleicht nicht schlecht.«
»Ich hoffe, Sie wollen mir nicht die Ehebrecherin Farsakoğlu vorschlagen«, erwiderte Ardiç in scharfem Ton.
»Sie ist eine gute Polizistin.«
Der große, beleibte Mann blieb wie angewurzelt stehen und fixierte seinen Untergebenen mit stählernem Blick. »Ich hoffe, dass das nicht ein weiteres Beispiel für Ihren seltsamen Humor ist, İkmen«, sagte er und ging weiter.
İkmen folgte ihm. »Ich finde das auch nicht amüsanter als die Vorstellung, dass meine Wohnung abgehört werden könnte.«
Ardiçs massiger Rücken bewegte sich bebend vorwärts. »Ah, aber dort reden Sie doch sowieso nur über familiäre Dinge, oder, İkmen? Genau wie ich.«
İkmen rieb sich müde die Stirn. »Selbstverständlich.«
Doch als sie den Ausgang der Zisterne erreichten, hatte er das Gefühl, dass ihm Gewalt angetan worden war. Man hatte ihn belogen, abgehört, seine Männer überfallen, einen von ihnen getötet, und wofür das alles? Im Grunde wusste er es noch immer nicht. Irgendwo auf der Welt waren mächtige Menschen bedroht gewesen, und die Abwehr dieser Bedrohung hatte ihn etwas gekostet, das sich anfühlte wie seine Unschuld. Nein, sie würden nie wieder davon sprechen. Er würde die Müren-Brüder verhaften, eine Zeit lang würde er sich in Gegenwart von Süleyman und İskender verlegen fühlen, doch dann würde das Leben normal weitergehen und die Illusion wieder hergestellt sein. Aber eines wollte er noch loswerden, bevor sie den zweifelhaften Schutz der Zisterne endgültig verließen – etwas, das er aussprechen musste, solange es noch möglich war.
»Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich Tepes Tod weiterhin für eine Hinrichtung halte, Herr Polizeipräsident«, erklärte er.
Ardiç blieb stehen, sagte jedoch nichts.
İkmen starrte auf den Rücken seines Vorgesetzten. »Ich dachte, das sollten Sie wissen«, fuhr er mit zusammengebissenen Zähnen fort. »Nur für den Fall, dass Sie Gelegenheit haben, es einem Ihrer mächtigen Unbekannten auszurichten.«
27
Fatma hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte Hülya wütend an.
»Du hast also vergessen, es deinem Vater zu erzählen«, sagte sie streng.
Hülya biss sich auf die Unterlippe und blickte zu Boden.
»Ja.«
»Und wo ist er?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete das Mädchen leise. »Dr. Halman hat angerufen, und dann musste er weg.«
Fatma wandte sich an den großen, ziemlich blassen Mann, der hinter ihr stand. »Was habe ich dir gesagt? Ständig unterwegs!«
»Wenn er gewusst hätte, dass du kommst …«, hob Hülya an.
»Oh, ich gebe zu, dass dann vielleicht die Möglichkeit bestanden hätte, dass er irgendwo in der Nähe wäre«, unterbrach Fatma sie. »Aber wer weiß das schon, wenn dein Vater mal wieder unterwegs ist, um die Welt zu retten!«
»Also, jetzt sind wir ja hier, oder nicht?«, sagte der Mann, setzte sich in einen der Wohnzimmersessel und schloss die Augen. »Im Grunde ist doch alles in Ordnung, Fatma.«
Mit der warmen Luftströmung wehten Kinderstimmen aus einem entlegenen Teil des Wohnblocks zu ihnen herüber.
Erschöpft nahm Fatma neben ihrem Bruder Platz und ergriff seine Hand. »Es tut mir Leid, Talaat.«
»Was denn?« Er schlug die Augen wieder auf und lächelte. »Dass wir ein Taxi vom Busbahnhof hierher genommen haben, ist doch kein Problem.«
Talaat Ertuğrul war fünf Jahre jünger als seine Schwester Fatma, was auf den ersten Blick jedoch nicht auffiel. Der sehr schlanke Mann zeigte leichte Anzeichen von Gelbsucht und war sichtlich gealtert, seit man vor drei Monaten seine Erkrankung diagnostiziert hatte. Talaat war nicht mehr der Playboy, Paraglider und Wasserskiläufer früherer Zeiten; die Falten, die sich beinahe über Nacht in sein Gesicht eingegraben hatten, bildeten vielmehr den sichtbaren Beweis dafür, dass dieser Mann die eigene Sterblichkeit nicht nur hatte akzeptieren müssen, sondern schon ein paarmal heftig damit konfrontiert worden war. Und so wenig Fatma sein früheres wildes Junggesellenleben gutgeheißen hatte, so sehr hasste sie es, ihn so zu sehen, wissend, wohin all der Schmerz führen
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