Im Gewand der Nacht
würde.
Hülya, die bisher zu nervös gewesen war, sich ihrer Mutter auch nur zu nähern, setzte sich neben sie. »Mama? Es tut mir Leid.«
Fatma wandte sich ihr zu; ihr Zorn war verflogen. Sie streckte die Hand aus und strich zärtlich über das Gesicht ihrer Tochter.
»Mir tut es auch Leid, Hülya«, sagte sie. »Ich weiß, wie schwierig es ist, deinen Vater aufzutreiben und ihn dann auch noch zum Zuhören zu bewegen.«
»Bülent hat schon die meisten Sachen aus seinem Zimmer geräumt«, sagte Hülya. »An den Wänden hängen allerdings noch lauter Galatasarayposter.«
»Als eingefleischter Beşiktaş-Fan«, sagte Talaat ernst, »sollte ich ihn eigentlich auffordern, sie abzunehmen.«
»Oh.«
»Aber das werde ich nicht tun.« Er lachte leise. »Ist schließlich nur Fußball.«
»Pass bloß auf, dass Bülent das nicht hört«, erwiderte Fatma spitz. »Für den Jungen ist dieser Sport wie eine Religion – so wie für die meisten Männer.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Hülya erleichtert, dass sie nicht mehr die Zielscheibe des Zorns ihrer Mutter war. »Papa hatte nie viel dafür übrig, und Sinan kann Fußball nicht leiden. Berekiah meint, es ist eigentlich eine moderne Version dessen, was sich früher im Hippodrom abgespielt hat, mit Gladiatoren, gewalttätigen Massen und dergleichen. Das sehe ich ganz genauso.«
Auch wenn ihre eigene Jungmädchenzeit schon viele Jahre zurücklag, spürte Fatma, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten; die Erwähnung des Namens eines jungen Mannes, verbunden mit Respekt für seine Meinung und nachfolgendem Erröten waren allzu verräterisch.
»Berekiah Cohen?«, fragte sie ruhig.
»Ja«, antwortete Hülya und wandte sich ein wenig von ihrer Mutter ab.
Fatma und Talaat zogen gleichzeitig die Augenbrauen hoch.
»Er bringt mich manchmal von der Arbeit nach Hause«, fuhr das Mädchen fort. »Papa hatte doch so viel zu tun.«
»Das ist aber sehr nobel von Berekiah, den weiten Weg von Karaköy hierher zu kommen, nur um dich die paar Meter nach Hause zu begleiten.«
»Hier in der Gegend haben sich grausame Verbrechen ereignet!«, rief Hülya.
»Ja, davon habt ihr mir erzählt.«
»Dann weißt du ja …«
»Ich weiß, dass meine Tochter sich in einen jüdischen Jungen verguckt hat.«
Hülyas Wangen liefen knallrot an. »Mama!«
»Wir reden später darüber, Hülya«, sagte Fatma entschieden. »Ich denke, du solltest deinem Onkel jetzt lieber einen Tee machen.«
»Aber …«
»Das wäre sehr freundlich«, sagte Talaat lächelnd.
Hülya wollte erneut widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Immerhin war ihre Mutter nicht – wie sie eigentlich befürchtet hatte – völlig außer sich geraten; also beschloss sie, der Bitte so schnell wie möglich nachzukommen.
»Selbstverständlich«, sagte sie und stand auf.
»Danke«, erwiderte Talaat immer noch lächelnd.
Als Hülya den Raum verlassen hatte, verdüsterte Fatmas Miene sich wieder, sie ging aber nicht mehr auf den Wortwechsel mit ihrer Tochter ein. Ihr armer Bruder hatte schon genug zu bewältigen. Weder Hülya noch Çetin, noch sonst irgendein Verwandter wusste, dass Talaat nicht für weitere Behandlungen nach Istanbul zurückgekehrt war. Man hatte bereits alles versucht, doch ohne jeden Erfolg. Talaat Ertuğrul war nach Hause gekommen, um zu sterben.
İkmen saß kaum fünf Minuten in seinem Büro, als man ihm mitteilte, er habe Besuch. Zunächst widerstrebte ihm der Gedanke zutiefst, ausgerechnet jetzt eine weinende junge Frau empfangen zu müssen (vielleicht eine weitere von Tepes Eroberungen?). Doch als man ihm den Namen seiner Besucherin nannte, änderte sich das schlagartig.
»Bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz, Frau Şeker.«
Er hielt der tränenüberströmten Frau die Tür auf. »Kann ich Ihnen einen Tee oder …«
»Inspektor İkmen, ich weiß, dass ich Inspektor Süleyman im Stich gelassen habe, aber ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Suzan Şeker und nahm vor İkmens Schreibtisch Platz, auf dem sich mit Zigarettenasche bestäubte Aktenberge türmten. »Ich habe lange darüber nachgedacht, und dann habe ich in den Nachrichten gehört, was gestern Nacht im Yıldız-Park passiert ist.«
»Ja?« Stirnrunzelnd nahm İkmen ihr gegenüber Platz.
»Inspektor, die Mürens haben ihre Anteile an meinem Geschäft an eine aserbaidschanische Familie verkauft.«
»Woher wissen Sie das, Frau Şeker?«
Sie blickte nach unten auf ihre Hände, und obwohl sie nicht mehr weinte, waren ihre
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