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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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sie mit einem anderen Mann schlief, einem Ausländer.«
    »Kannte sie diesen Ausländer?«
    »Nein. Sie hat auch nie viel darüber geredet. Unser Vater hatte uns zwar zu unabhängigen, modernen Frauen erzogen, aber Muazzez hat sich trotzdem geschämt. Sich auf diese Weise von einem Mann benutzen zu lassen … Er verlangte von ihr, dass sie sich wie eine osmanische Prinzessin ausstaffierte, dass sie dieses Kleid trug – genau das Kleid, das du uns gezeigt hast und in dem das Mädchen starb. Ich wusste, dass ich es schon mal gesehen hatte. Vielleicht komme ich dir jetzt verwirrt vor, aber … Muazzez hat das Kleid genäht. Nach der ersten Begegnung im Kino dachte sie, der Auftrag beziehe sich nur auf die Anfertigung des Gewands, aber dann sagte der Mann ihr, sie solle es tragen und … bestimmte Dinge darin tun. Danach kam es nie wieder zu sexuellen Handlungen. Muazzez wurde lediglich beauftragt, Kleider für andere Mädchen zu nähen. Und seit dieser Zeit haben wir jedes Jahr mehrere Gewänder angefertigt, in denen andere Mädchen irgendwelche Männer beglückten. In Anbetracht der Summe, die meiner Schwester gezahlt wurde, muss es sich um sehr wohlhabende Männer gehandelt haben, und eben um Ausländer. Muazzez hat sich immer persönlich um die Auslieferung der Kleider gekümmert. Wir wurden sehr gut dafür bezahlt.« Yümniye schwieg einen Moment, um einen Schluck Tee zu trinken. »Muazzez wurde von diesem Mann ausgewählt, weil unser Vater ein osmanischer General gewesen war. Der Mann kannte uns – die hochgeborenen Heper-Schwestern, die sich wie Knaben kleideten.«
    »Jeder kannte Sie«, sagte İkmen lächelnd. »Sie waren schon immer die besten Schneiderinnen von ganz Istanbul.«
    »Ja.« Yümniye schaute zu dem Porträt des streng dreinblickenden Mannes mit dem Fez auf, das über dem Kamin hing.
    »Sie wollten echte osmanische Mädchen für ihren Harem, genau diesen Ausdruck benutzten sie. Muazzez war perfekt. Später genügte jedes x-beliebige Mädchen, Hauptsache, sie trug die richtige Kleidung. Vor kurzem wurde dann plötzlich alles anders. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber Muazzez bekam Angst. Heute Morgen ist sie losgefahren, um diesen Mann zu treffen; er hatte sie angerufen.«
    »Haben Sie jemals mit ihm gesprochen?«
    »Nein, nie.« Sie sah wieder zu İkmen hinüber. »Muazzez hat immer darauf geachtet, dass ich nichts mit dem Geschäft zu tun habe. Sie hat mich geliebt …«
    »Ja.« İkmen beugte sich vor und runzelte nachdenklich die Stirn. »Also dieser Harem …«
    »Ich weiß nicht, wo das Ganze stattfand, Çetin«, sagte Yümniye, während sie sich erneut die Tränen aus den Augen wischte. »Ganz am Anfang habe ich Muazzez einmal danach gefragt, aber sie sagte, man habe ihr die Augen verbunden und sie dann an den Ort des Geschehens gebracht. Sie konnte sich nur erinnern, dass man durch einen Wald oder Park gehen musste. Schließlich hat sie das Ganze nur ein einziges Mal gemacht, in einem Raum aus Seide, Kristall und Gold.«
    »Wie in einem Palast.«
    »Na ja, wo sonst würde man eine osmanische Prinzessin nehmen?«
    İkmen blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Und doch kann dieser Ort überall sein, nicht wahr? Es könnte sich um ein geheimes Zimmer im riesigen Topkapı-Palast handeln oder um eine Attrappe im Hinterhof irgendeiner grässlichen gecekondu- Siedlung . «
    »Angesichts der beträchtlichen Summe, die Muazzez bekam, halte ich Ersteres für wahrscheinlicher«, sagte Yümniye. »Es war wirklich viel Geld, Çetin.«
    »Für einen Türken vielleicht, aber nicht notwendigerweise für einen Ausländer. Damals war Istanbul für Europäer ausgesprochen preiswert.«
    »Ich weiß nicht, ob er Europäer war«, erwiderte Yümniye. » Muazzez deutete nur an, er sei aus einem anderen Land gekommen.«
    »Dieser Harem existiert also bis zum heutigen Tag.«
    »Ja. Mit neuen Mädchen und neuen Kleidern. Aber wie ich schon sagte: Muazzez hatte kein gutes Gefühl mehr bei der ganzen Geschichte. Und als du uns erzählt hast, das arme Mädchen sei in einem von unseren Gewändern gestorben … Ich wollte dir ja alles sagen, aber Muazzez war dagegen. Viel zu gefährlich, meinte sie. Diese Haremgeschichte sei eine wirklich große Sache.«
    »Eine große Sache?« İkmen drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich die nächste an. »Was meinen Sie damit?«
    Yümniye zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, Çetin. Ich wiederhole nur, was Muazzez gesagt hat. Obwohl wir uns

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