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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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immer darüber im Klaren waren, dass wir etwas Falsches taten, wenn wir diese Kleider nähten, bekam Muazzez es erst vor kurzem mit der Angst zu tun. Wie du weißt, war sie immer sehr tapfer, und außerdem fühlten wir uns dem Mann gegenüber, dem sie vor vielen Jahren im Alkazar-Kino begegnet war, zu tiefem Dank verpflichtet. Er hat uns dieses Haus und ein anständiges Leben geschenkt, und er hat es unserem Vater ermöglicht, seinen Lebensabend in Würde zu verbringen. Ich würde ihn wirklich gerne einmal kennen lernen.«
    »Dann glauben Sie nicht, dass er Ihre Schwester umgebracht hat?«, fragte İkmen.
    Yümniye Heper blickte ihn erschrocken an. »Oh nein, ganz bestimmt nicht. Ich meine, warum sollte er nach all der Zeit so etwas tun?«
    »Vielleicht hat er oder einer seiner Männer mich in Ihr Haus gehen sehen. Ich bin ein ziemlich bekannter Polizist, Fräulein Yümniye.«
    »Ja, das stimmt«, sagte sie. »Du hast es weit gebracht, Çetin. Aber woher sollte Muazzez’ Mann wissen, dass du hergekommen bist, um nach dem Harem zu fragen? Das Kleid hattest du in einer Tasche; und außerdem wusste er, dass Muazzez dir niemals etwas davon erzählt hätte. Selbst nachdem wir vom Tod dieses Mädchens erfahren hatten, blieb sie eisern. Wir haben uns heftig deswegen gestritten. Sie meinte, es sei absolut ausgeschlossen, dass dieser Mann und seine Kunden das Mädchen getötet haben. Ich fragte sie, woher sie das wissen wolle, aber sie sagte, sie wisse es eben und ich solle nicht weiter in sie dringen. Sie meinte, das müssten andere getan haben.«
    »Aber sie hat nicht gesagt, wer?«
    »Nein.«
    İkmen ließ sich gegen das weiche Rückenpolster des Sofas sinken und seufzte. Also hatte Ratte mit den Odalisken Recht gehabt. Seit langer Zeit wurden im modernen Istanbul diese Liebesdienerinnen angeboten, eine türkische »Spezialität« für reiche, neugierige und wahrscheinlich übersättigte Ausländer. Verrückte alte Europäer, die für den Gegenwert eines kompletten türkischen Hauses ein paar Stunden lang mit einer »echten« osmanischen Prinzessin den Sultan spielen konnten. Doch vielleicht stimmte das auch nicht ganz. Vielleicht waren die beteiligten Männer gar nicht verrückt, sondern vielmehr einflussreich. Schließlich hatte ihre Organisation viele Jahre als gut gehütetes Geheimnis überdauert. Und wenn jetzt wirklich irgendwelche Familien in das Geschäft eingestiegen waren – so wie Ratte behauptete –, dann mussten sie zu dem Schluss gekommen sein, dass die Kunden des Harems so wohlhabend und mächtig waren, dass sie den zeitlichen Aufwand und die Mühe lohnten.
    »Fräulein Yümniye«, sagte İkmen bedächtig, »haben Sie jemals von einer Familie Müren gehört?«
    Yümniye blickte ihn erstaunt an. »Nein. Warum?«
    »Ach, nur so.« İkmen zuckte die Achseln. »Es war nur ein Gedanke.«
    Eine Weile saßen beide schweigend da. Schließlich runzelte Yümniye die Stirn, als dächte sie angestrengt nach, dann meinte sie: »Wenn du mehr über den Harem wissen willst, könntest du natürlich mal mit Sofia reden …«
    »Sofia?«
    »Ja, Sofia Vanezis. Sie ist ungefähr so alt wie du. War ein wirklich hübsches Mädchen, wenn auch ein wenig langsam.«
    »War sie das Mädchen, das beim Schuster Panos wohnte?«, fragte İkmen.
    Yümniye lächelte. »Ja. Sie und ihre Mutter zogen von Fener hierher, als Sofias Vater starb. Panos war sein Bruder, wenn ich mich recht entsinne.«
    »Ja.« İkmen nickte. »Die Familie war sehr arm. Aber Sofias Mutter schien eine sehr stolze Frau zu sein, immer gut gekleidet.«
    »Maria Vanezis war eine Phanariotin, alter byzantinischer Adel«, erklärte Yümniye. »Eine der letzten ihres Geschlechts, aber gezwungen, unter sehr beengten Verhältnissen zu leben, als sie hierher kamen. Wie viele von uns auch.« Sie seufzte, und ihr Gesicht verdüsterte sich. Ein paar Minuten saß sie, in Gedanken versunken, schweigend da. Doch dann räusperte İkmen sich, und das Geräusch holte sie aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart.
    »Na ja, wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »worauf ich eigentlich hinauswill, ist Folgendes: Als Maria im Sterben lag, brauchte Sofia unbedingt Geld. Sie war noch sehr jung und hatte Angst. Da sie nicht die Hellste war, konnte sie keine Stelle finden, und Panos wollte sie nicht länger in seinem Haus haben. Muazzez hatte Mitleid mit ihr und sorgte dafür, dass sie im Harem, äh, arbeiten konnte. Meine Schwester dachte immer, ich wüsste nichts davon, aber ich habe

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