Im Gewand der Nacht
Gespräch beendete.
Der junge Wachtmeister legte den Hörer zurück auf die Gabel. Das Schnarchen seines Vaters wurde von der lauten Musik aus der gegenüberliegenden Wohnung fast vollständig übertönt, doch weder der Lärm noch İkmens seltsame Bitte hielten Hikmet davon ab, wieder ins Bett zu gehen. Er brauchte seinen Schlaf. Zurzeit hatten nur er und İsmet eine feste Anstellung, und er wusste, dass es sehr unangenehme Konsequenzen haben konnte, wenn er zu spät kam oder nicht das tat, was man von ihm verlangte.
Müde ließ er sich auf seine Liege sinken, während sein Bruder İsmet den Namen einer Frau murmelte und dabei stöhnte.
17
Orhan Tepe rieb sich mit den Handballen die blutunterlaufenen Augen und trank einen Schluck Kaffee. Vom kleinen Balkon seiner Wohnung aus konnte er das Kommen und Gehen im büfe auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachten. Die Sonne stand erst seit einer knappen halben Stunde am Himmel, und die meisten Kunden, die in dem Imbiss Börek und Tee kauften, waren ärmlich gekleidete Arbeiter, Taxifahrer, Sesamringverkäufer und Wachleute. Tepe entdeckte auch einen Polizisten darunter, einen jungen Mann in einer schlecht sitzenden Uniform. Verächtlich verzog er das Gesicht. Bei Allah, es musste sich etwas ändern in diesem Land! Nicht, dass er genau hätte sagen können, was – er hatte nur das Gefühl, dass mehr Menschen eine solche Einstellung haben sollten wie die eleganten Gäste, die er beim Abendessen mit Ayşe im Rejans gesehen hatte. Ein selbstbewusstes Auftreten, gepaart mit einem gepflegten Äußeren – einfach eine Ausstrahlung, die man nur mit Geld kaufen konnte. Eines Tages, lächelte er in sich hinein, eines nicht allzu fernen Tages … Aber der Gedanke daran erfüllte ihn nicht mit Freude, sondern stimmte ihn eher missmutig. Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. Vielleicht sollte er sich heute nach Dienstschluss einen dieser CD-Spieler kaufen, von denen er schon so lange träumte – das würde ihn auf andere Gedanken bringen. Am besten kaufte er gleich zwei, einen für sich und einen für Ayşe …
Die Balkontür wurde geöffnet, und das Geräusch riss Orhan aus seinen Gedanken. Als er sich umdrehte, sah er seine Frau Aysel.
»Çetin Bey ist hier, Orhan«, sagte sie lächelnd und trat einen Schritt zur Seite, damit die kleine, zerknitterte Gestalt hinter ihr aus dem Wohnzimmer hinaus auf den Balkon treten konnte. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee, Çetin Bey? Eine französische Mischung, sie ist wirklich gut.«
»Das wäre sehr freundlich, Frau Tepe«, lächelte İkmen. » Vielen Dank.«
Aysel ging. Die beiden Männer hörten, wie sie auf dem Weg in die Küche fröhlich auf ihren Sohn Cemal einredete.
»Wie geht denn die Suche nach Hikmet Sivas und seinem Bruder voran?«, fragte İkmen und ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Tepe sinken.
»Ich dachte, Sie wären beurlaubt«, erwiderte sein Untergebener so unverblümt, dass İkmen ihn unter normalen Umständen sofort zurechtgewiesen hätte.
»Das bin ich auch, Orhan.« Er holte ein zerknittertes Päckchen aus der Tasche und zog eine Zigarette daraus hervor, die aussah wie ein altes Stück Schnur. »Aber auch wenn Ardiç mir den Zugang zu dem Haus in Kandilli verwehrt, kann ich mich immer noch für den Fall interessieren. Das kann er mir nicht verwehren.«
»Nein.«
»Und?«
Tepe zuckte die Achseln. »Wir haben einige Arbeitskollegen befragt. Uns den Tunnel des alten Paschas näher angesehen. Und Polizeipräsident Ardiç hat persönlich im Haus Posten bezogen, für den Fall, dass jemand anruft.«
»Hat er Kontakt mit den Behörden in Amerika aufgenommen?«, erkundigte sich İkmen.
»Ich glaube nicht.«
»Der arme Metin İskender muss das Gefühl haben, dass mit diesem Fall auch seine Karriere den Bach hinuntergeht«, sagte İkmen spöttisch.
»Warum das?«
»Weil offenbar niemand irgendetwas unternimmt«, sagte İkmen. »Sowohl die Schwester als auch Ahmet Sılay ha ben angedeutet, dass Hikmet Sivas Kontakte zur Mafia unterhielt.«
»Polizeipräsident Ardiç meint, das seien alles nur Gerüchte.«
»Das mag sein, aber man sollte ihnen dennoch nachgehen. Ich hätte es getan! Was für ein …«
In diesem Augenblick trat Aysel mit dem Kaffee auf den Balkon hinaus, und İkmen unterbrach die Tirade gegen seinen Vorgesetzten. Als sie die Tasse vor ihm abstellte, schaute er zu ihr auf und lächelte sie an. »Das duftet wunderbar, Frau Tepe.«
»Wir haben auch Kristallzucker«, erwiderte
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