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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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einmal zufällig ein Gespräch der beiden mitgehört. Bis heute kommt – kam – Sofia gelegentlich vorbei, um Muazzez zu besuchen. Sie ist ihr sehr dankbar. Durch Muazzez’ Vermittlung konnte sie Medikamente für ihre Mutter besorgen und die kleine Pension kaufen, in der sie nun lebt.«
    »Also hat Sofia ihren Körper für Geld verkauft.«
    »Ja. Das arme Ding hatte sich vorher schon jahrelang von Männern begrapschen lassen, weil sie es nicht besser wusste. Muazzez muss der Meinung gewesen sein, dass dies für Sofia die einzige Möglichkeit war, an etwas Geld zu kommen, und vermutlich hatte sie damit sogar Recht.«
    İkmen zündete sich eine weitere Zigarette an. »Das Besondere an Sofia war vermutlich ihre phanariotische Herkunft.«
    »Ja, das nehme ich an.«
    »Aber glauben Sie wirklich, dass sie mit mir über den Harem sprechen wird, Fräulein Yümniye?«
    »Ich weiß es nicht. Falls sie bereit sein sollte, mit dir zu reden, könnte sie dir aber wahrscheinlich eine ganze Menge erzählen. Sie hat ein außergewöhnlich gutes und präzises Gedächtnis. Ich kann ja mal versuchen, mit ihr zu sprechen. Allerdings hat sie bisher noch nie ein Wort mit mir gewechselt. Sie steht mit ihren leuchtend roten Haaren immer nur da und glotzt mich an.«
    Das war also die Frau, die ihn bei seinem ersten Besuch im Hause der Heper-Schwestern angestarrt hatte, dachte İkmen. Die verrückte Sofia. Und plötzlich kam die Erinnerung zurück, die Erinnerung an sein kleines Geheimnis und an die Schuldgefühle. Der erste Busen, den İkmen – im Alter von zwölf Jahren – von nahem zu sehen bekommen hatte, war der der verrückten Sofia gewesen. Damals war sie sehr hübsch gewesen, und er hatte wochenlang von ihr geträumt. Doch jetzt war sie ziemlich gealtert, und er fragte sich, ob sie ihn erkannt hatte.
     
    Die Herkunft eines Menschen gibt manchmal zuverlässig darüber Auskunft, was er ertragen kann. Die Familie Yıldız war ein typisches Beispiel dafür. Mustafa und Arın Yıldız stammten zwar beide aus einem Dorf, wohnten aber seit fast dreißig Jahren in den lebhaftesten Vierteln der Stadt: zuerst in einer einfachen Hütte in der gecekondu- Siedlung von Gaziosmanpaşa, wo ihre drei Söhne İsmet, Hikmet und Süleyman zur Welt kamen, später dann in einer Dreizimmerwohnung in einem Hochhaus mit Blick auf die Londra Asfalti-Schnellstraße und zahlreiche ähnliche Mietshäuser, etwa vier Kilometer vom Atatürk-Flughafen entfernt. Das mit lauten Erwachsenen, grölenden Jugendlichen und ganzen Horden von Kindern dicht besiedelte Viertel vibrierte Tag und Nacht vom Lärm plärrender Fernseher, arabischer Musikfetzen und erhitzter Gemüter. Das hatte Wachtmeister Hikmet Yıldız und seine Brüder aber noch nie davon abgehalten, auf den harten Liegen, die ihnen schon immer als Betten dienten, tief und fest zu schlafen. Selbst als kurz nach Mitternacht das Telefon klingelte, rührte sich keiner der Brüder. Also war es an Arın, Hikmet zu wecken und ans Telefon zu holen.
    »Jemand von der Polizei«, flüsterte sie nervös, als ihr Sohn schlaftrunken in den winzigen, grau gestrichenen Flur wankte. Obwohl einer ihrer Söhne Polizist war, lief es Arın noch immer kalt über den Rücken, wenn die Wache in ihrer Wohnung anrief. Damals in ihrem Heimatdorf war die Polizei gefürchtet und mit Geschenken bei Laune gehalten worden, aber niemand mochte sie.
    Hikmet nahm seiner Mutter den Hörer ab. »Ja bitte?«
    Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang dringlich, fast schon aufgeregt. »Hikmet? Hier ist Inspektor İkmen.«
    »Oh hallo, Herr Inspektor.«
    »Wann haben Sie morgen Dienstschluss, Hikmet?«
    »Hm …« Er musste einen Moment nachdenken. »Um drei.«
    »Hören Sie, Hikmet«, sagte İkmen, »vertrauen Sie mir? Meinem Urteilsvermögen?«
    Hikmet runzelte die Stirn. Worauf wollte der Inspektor hinaus? »Ja«, sagte er, »natürlich.«
    »Und wenn ich Sie bitten würde, etwas zu tun, was Ihnen vielleicht merkwürdig oder vorschriftswidrig erscheint und wofür ich Ihnen absolut keinerlei Erklärung bieten könnte, würden Sie es trotzdem für mich tun?«
    »Tja, ich denke schon …«
    »Prima«, erwiderte İkmen. »Ich rufe Sie morgen wieder an.«
    »Inspektor, ist irgendetwas …«
    »Keine Fragen, Hikmet. Ich kann Ihnen nichts sagen. Je weniger Sie wissen, desto besser. Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie das wirklich machen wollen?«
    Hikmet war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, sagte aber trotzdem ja, worauf İkmen das

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