Im Glanz Der Sonne Zaurak
tippt sich verständnislos an die Stirn. „Hast du nicht mehr alle Nadeln an der Tanne?“ fragt er ratlos. „Ich habe dir gerade beigestanden, dich verteidigt! Obwohl mich die Sache gar nichts anging.“
„Eben“, antwortet Viktor traurig. „Eben, sie ging dich nichts an. Ich weiß, warum Ponape das getan hat. Es war eigentlich meine Schuld…“
„Was erzählst du da?“ Leander schüttelt ungläubig den Kopf.
„Ich muß in die Kombüse. Kommst du mit?“
Das war ein Wink, und Leander begreift sofort, daß Viktor ihn unter vier Augen sprechen möchte. Erst runzelt er die Stirn. Normalerweise fordert er die Leute auf, dieses zu tun und jenes zu lassen. Doch die Wärme und Liebe, mit der Viktor Sandies von seiner Mutter sprach – einen Augenblick lang war Leander versucht, ihm die Hand zu drücken. Nur seiner Beherrschung war es zu danken, daß er dieser peinlichen Regung nicht nachgegeben hatte.
Trotzdem – Viktor hatte eine Saite in Leanders Empfindu n gen zum Klingen gebracht. Leander liebt abgöttisch seine gebrec h liche Mutter, die dem rabiaten und selbstherrlichen Vater Anatol Malden genauso wehrlos ausgeliefert ist wie er. Nie würde er auf den Gedanken kommen, diese ängstlich verborgen gehaltene Gefühlsregung zu zeigen. Aber plötzlich verspürt er den unbezwingbaren Wunsch, sich Viktor Sandies, diesem sommersprossigen Kahlkopf, anzuvertrauen.
Und da ist noch etwas anderes. Sandies ist der einzige, gegen den er nicht irgendeinen geheimen Groll hegt. Sargon beneidet er um dessen Gelassenheit, Ponapes Streberei ekelt ihn an, ebenso die Infantilität Ekallas, der brummige Jablock ist ihm physisch überlegen, und Pyron paßt ihm einfach nicht, weil er ein Rivale im Kampf um einen Platz auf der Brücke ist. Sie sind vier zukünftige Navigatoren – Ponape, Sargon, Pyron und er –, aber es gibt nur drei Navigatorplätze auf der Brücke. Da Ahab nicht mit gemischten Wachen arbeitet, also Stammbesa t zung und Absolventen streng voneinander trennt, muß einer zusehen. Gegen Sandies hat Leander nichts. Das beunruhigt ihn. Dieser friedfertige, unauffällige Ernährungsphysiologe ist unangreifbar, weil er keinen Widerstand leistet. Die Trauri g keit, mit der er auf Spötteleien und Provokationen reagiert, ist entwaffnend. Man fühlt sich schuldig, wenn er einen mitleidig und verstän d nisvoll mustert.
„Ich verstehe dich nicht“, sagt Leander offenherziger, als er es wollte.
Viktor sortiert Büchsen mit bunten Aufklebern in ein Regal ein und antwortet leise: „Ich dich manchmal auch nicht… Das wird daran liegen, daß wir zuwenig voneinander wissen.“
„Aber warum, zum Teufel, verteidigst du Ponape?“
Gemächlich dreht sich Sandies um. Er lehnt sich gegen das Regal und antwortet: „Weißt du, Algert ist von uns allen am schlechtesten dran. Seine Eltern kamen durch einen Unfall um, beide, als er noch nicht geboren war. Aber es gab ihn schon. Und ihn konnten sie retten. Er ist ein Retortenbaby, hat nie eine Mutter und nie einen Vater gehabt. Er ist im Heim aufgewac h sen. Sicher, dort hatte er fast alles, was ein Mensch braucht – doch sag selbst: Wer kann schon die Mutter ersetzen, den Vater, die Geschwister? Algert besitzt keine Verwandten, überhaupt keine.“
„Ich finde, da ist er gar nicht so übel dran“, entgegnet Lea n der bitter. „Er kann sich Freunde suchen. Die kann man sich aussuchen, Verwandte nicht!“
„Wie kannst du so etwas sagen!“ weist ihn Viktor zurecht. „Wir können uns nicht in ihn hineinversetzen; wir haben ja Eltern. Und du hast sogar einen berühmten Vater, auf den du stolz sein kannst, der dir hilft, wenn du ihn brauchst! Weißt du überhaupt, wie Algert dich darum beneiden muß, wie es ihn quälen muß, ganz allein zu sein?“
Erst wollte Leander beleidigt auffahren, dann aber stößt er nur verbittert hervor: „Wenn du wüßtest…“
„Nein, ich weiß nicht. Ist das meine Schuld? Erzähle!“ fordert Viktor ihn auf.
Leander beginnt zu reden. Erst zurückhaltend, knapp. Jedes Wort kostet ihn Überwindung. Mit jedem Wort aber schwindet auch seine Befangenheit. Das erstemal in seinem Leben macht er seinem Herzen richtig Luft. Und diesmal nicht mit den Fäusten.
Als Leanders Geschichte von der Haßliebe zum berühmten Vater erzählt ist und der Offiziersschüler mit dem herrischen Gesichtsausdruck verlegen am Reißverschluß seiner Lede r kombination herumfingert, macht Viktor ein sorgenvolles Gesicht. „Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann,
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