Im Glanz Der Sonne Zaurak
durch den schmalen Spalt. Noch muß er sich auf seinen Tastsinn verlassen. Dunkel erinnert er sich an eine alte Kletterregel: Immer an drei Punkten festen Halt haben, dann den vierten suchen, sich nie von zwei Punkten gleichzeitig lösen, immer nur von einem. Die Dreipunkteregel.
Die Äste oder Arme, die sich unter seinen Füßen leicht durchbiegen, sind tückisch glatt. Nachdem er den Kopf vorsichtig durch das Loch gezogen hat, verharrt er einige Sekunden, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Allmählich treten die Konturen der Baumriesen hervor. Leander fühlt sich wie in einer unterirdischen Grotte, deren Decke von unzähligen Säulen gestützt wird. „Sieh dich vor, Malden!“ warnt ihn Osmar völlig unnötigerweise. Selbstve r ständlich sieht er sich vor! Schließlich gehören die Knochen ihm, die er sich bei einem Absturz unweigerlich brechen würde. Die Anteilnahme jedoch, die in Osmars Worten mitschwang, rührt ihn an, sosehr er sich auch dagegen wehrt.
Meter für Meter klettert er abwärts. Das schwache Licht des Helmscheinwerfers erhellt nur einen winzigen Ausschnitt der ihn umgebenden Finsternis. Einigemal ist ihm, als huschten flinke Schatten vorüber, lautlos und bedrohlich nahe. Eine Strecke von etwa doppelter Mannshöhe kann er nur überwi n den, indem er sich an einem lianenähnlichen Pflanzenstengel wie an einem Seil hinabläßt. Mitunter muß er eine Pause einlegen, nicht etwa, weil die Kletterei seine Kräfte zu sehr beanspruchen würde. Nein, er hat Konzentrationsschwierigke i ten. In den letzten Wochen ist zu viel geschehen, womit er noch nicht fertig geworden ist, und immer wieder beschäftigen sich seine Gedanken mit diesen Ereignissen.
Da ist sein Zusammenprall mit Askart. Genauso rätselhaft wie dessen vorheriges Verhalten Viktor gegenüber ist dessen Verhalten danach. Hat Leander mit einer sofortigen Meldung und mit strengster Bestrafung durch Ahab gerechnet, sieht er sich getäuscht. Eigentlich müßte er zufrieden sein mit dem Erfolg, den seine Drohungen zeitigen: Askart läßt Viktor in Ruhe und gibt ihm, Leander, mit jeder Geste zu verstehen, daß er sich schuldig fühlt und um Verzeihung bittet. Diese deutl i che Demut verwirrt Leander.
Aber noch schlimmer war die Unterhaltung mit Pinn. Seit Leander um des Vaters Schuld weiß, haben sein Trotz und sein Stolz Ahab gegenüber nicht mehr dieses frische Selbstbewuß t sein als Nährboden und verkümmern im Gefühl der Schuld, die auf dem Namen Malden lastet…
Ein gefährlich nahes Rascheln läßt Leander erstarren. Wä h rend seine rechte Hand den Kolben des Werfers sucht, versucht sein Blick, den unirdischen Dschungel ringsum zu durchdri n gen. Wie ein schwarzer Blitz zuckt ein dünner langer Schatten zu Boden, nur wenige Meter von ihm entfernt! Leander lacht heiser auf und steckt den Handwerfer in die Hülle zurück. Nein, Angst hat er nicht gehabt, aber einen winzigen Auge n blick hat er gespürt, wie hilflos ein Mensch ist, wenn er die Gefahren nicht kennt, die auf ihn lauern. Da kann man sich auch einmal durch eine herabfallende Liane bedroht fühlen, die überall wie Feuerwehrschläuche von den Bäumen hängen! Unwillkürlich gibt er den merkwürdigen Gewächsen irdische Namen – Bäume, Lianen, Büsche, Gras –, obwohl sie den Pflanzen auf der Erde nur weit entfernt ähneln. Es gibt einem auch ein Gefühl der Sicherheit, man fühlt sich heimischer, wenn man alles benennen kann.
„Wie steht es, hast du Schwierigkeiten?“ hört er Osmar besorgt fragen.
„Alles in Ordnung.“ Ponape schweigt verbissen.
Der hat im Augenblick mit sich selbst zu tun und überlegt wahrscheinlich, wie er sich vor Ahab rechtfertigen kann! denkt Leander grinsend und stellt sich vor, wie unter Ponapes wächsernem Raubvogelgesicht der Adamsapfel auf und nieder hüpft, wenn er die Vorhaltungen des Kapitäns widerspruchslos schlucken muß.
Daß auch Pyron sich nicht mehr meldet, beachtet Leander nicht weiter. Als er endlich den Boden erreicht, stellt er erstaunt fest, daß auch dort überall die armdicken Stränge dieser merkwürdigen Lianen herumliegen. Er nimmt sich die Zeit, eins dieser Gebilde näher zu betrachten. Die Länge ist nicht feststellbar. Es endet irgendwo im düsteren Dschungel. Aber die seltsam geformte Spitze zieht Leanders Aufmerksa m keit auf sich. Diese Liane läuft in ein abgeplattetes Ende aus, das irgendwie dem Ruderschwanz eines amphibisch lebenden Lurches oder Reptils ähnelt. Und dieses Ende ist mit winzigen
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