Im Haus des Wurms
waren willkürlich gesetzt, da sich Tag und Nacht kaum voneinander unterschieden), bis Mitternacht trugen alle Festgäste Masken, selbst der Menschwurm.
Lange Vorhänge aus schwerem, rotem Samt waren für diese Zeit vor das Fenster gezogen worden, um die Sonne zu verbergen. Schweigende Fackelpfleger brachten auf schwarzen, eisernen Tabletts das Festessen, das an einer langen Tafel serviert wurde: schwere Champignons in Cremesauce, raffiniert aromatisierte Boviste, winzige Larven mit Speck umwickelt, grüner Wein, in dem sich lebendige Gewürzwürmer kringelten, gebratene Kriechtiere und Höhlenferkel aus der königlichen Spei-sekammer des Menschwurms, heißes Pilzbrot und Tausende anderer Delikatessen. Manchmal, wenn das Glück hold war, wurde als Höhepunkt des Mahls ein pummeliges, sechsgliedriges Graunkind (oder zwei!) aufgetragen. Am liebsten mochte man das mit äußerster Sorgfalt zubereitete weiße und saftige Fleisch von Grauns, die die Pubertät noch nicht erreicht hatten. Die Gäste aßen jedesmal, bis sie nicht mehr konnten, scherzten und lachten hinter ihren Schleiern und Dominos und tanzten Stunden um Stunden unter den Fackeln, während die spiegelnden Flächen von Wänden und Decke ihre Bewegungen vexierten. Um Mitternacht wurde mit der Demaskierung begonnen. Und wenn alle ihre Gesichter enthüllt hatten, trugen die bronzenen Ritter den regierenden Menschwurm zur vierten Wand, wo er den Vorhang an einem Seilzug öffnete (falls ihm noch Hände geblieben waren - wenn nicht, so besorgten das die Ritter), um den Blick auf die Sonne freizugeben.
Der Menschwurm in diesem Jahr war Vermentor II.
Als vierzehnter Herrscher seines Geschlechts regierte er von der Hohen Höhle im Haus des Wurms nun schon seit zwölf Jahren über die Yaga-la-hai. Bald würde seine Zeit ablaufen, denn die Priesterchirurgen hatten ihre heilige Arbeit an ihm fast abgeschlossen. Außer dem menschlichen Kopf, der schlaff auf dem sehnigen, zuckenden Torso des Menschwurms saß, war nichts, das noch hätte purifiziert werden müssen. Bald würde er eins sein mit dem Weißen Wurm. Sein Sohn hielt sich für die Nachfolge schon bereit.
Groff, der bronzene, schwer gepanzerte Ritter, trug Vermentor ans Fenster, öffnete für ihn den samtenen Vorhang und enthüllte die Sonne, während der Menschwurm den alten rituellen Gesang anstimmte und die Kinder des Wurms näher kamen.
Annelyn, umringt von Freunden und Anhängern, stand, wie nicht anders zu erwarten, in vorderster Reihe.
Annelyn nahm immer eine hervorragende Position ein.
Er war ein schlanker, prächtiger junger Mann, groß und anmutig. Alle hochgeborenen Yaga-la-hai hatten eine weiche, mokkafarbene Haut, aber die von Annelyn war die weichste überhaupt. Die meisten seiner Gefährten hatten blondes oder rotblondes Haar, aber das von Annelyn war vom hellsten Gelbgold. Es krönte sein Haupt in fein gelegten Locken. Viele Kinder des Wurms hatten blaue Augen, aber keine waren so blau und tief wie die von Annelyn.
Als die Vorhänge zurückgezogen waren, meldete er sich als erster zu Wort. »Die schwarzen Stellen wachsen«, beobachtete er. Seine Stimme war hell und klar. »Bald werden wir die Vorhänge nicht mehr brauchen. Die Sonne maskiert sich selbst.« Er lachte.
»Sie stirbt«, sagte Vermyllar, ein hagerer Junge mit hohlen Wangen und flachsgelbem Haar. Er machte sich immer zuviel Sorgen. »Mein Großvater sagte mir, daß es einmal eine Zeit gab, als die schwarzen Flächen noch rot glühten und die Seen und Flüsse so grell leuchteten, daß man kaum hinsehen konnte.« Vermyllars Großvater war der zweite Sohn eines Menschwurms gewesen und hatte viel von seinem Wissen an seinen Enkel weitergeben können.
»Vielleicht war es einmal so«, sagte Annelyn, »aber ich wette, nicht zu seiner Zeit, vielleicht nicht mal zur Zeit seines Großvaters.« Annelyn stammte zwar nicht aus der Linie eines Menschwurms und verfügte über keine heimlichen Quellen, aus denen er sein Wissen bezog, aber trotzdem war er immer sehr von sich überzeugt, und seine Freunde – Vermyllar, der stämmige Riess und die schöne Caralee – hielten ihn für den klügsten und scharf-sinnigsten Mann, den es gab. Er hatte nämlich einmal einen Graun getötet.
»Macht es dir nichts aus, daß die Sonne stirbt?« fragte Caralee und warf ihre blonden Locken zurück, als sie sich Annelyn zuwandte. Sie hätte Annelyns Zwillingsschwester sein können, so sehr glich sie ihm.
Vielleicht war das der Grund, warum er sie so
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