Im Herzen der Koralleninsel: Ein Südseeroman (German Edition)
würden es nicht schaffen. Einer vielleicht schon, aber nicht zu zweit.
Er zögerte nur kurz. Dann drückte er Isabel das Buschmesser in die Hand und legte einen Pfeil in die Bambussehne seines Bogens.
»Geh! Ich werde sie aufhalten. Los, beeil dich!«
»Aber …«
»Ich werde behaupten, du wärest über die Brücke geflüchtet. Halte dich immer in der Nähe des Wassers und versuch, die Expedition zu erreichen!«
Er hob den Bogen und spannte den Pfeil, richtete ihn auf den Pfad hinter ihnen. Obwohl sein Herz noch immer wie rasend klopfte, war er auf einmal ganz ruhig.
Er tat es für sie. Für Isabel.
»Lauf!«
Sie warf ihm einen letzten, verzweifelten Blick zu, dann drehte sie sich um und rannte los.
Lauf!
Der Schrei hallt in seinen Ohren wider.
»Lauf, Jeroen, lauf weg!«
Das blasse Gesicht einer Frau, die ihn aus furchtsam aufgerissenen Augen anstarrt.
Augen, so blau wie seine.
Die plötzliche Erkenntnis ließ seinen Atem stocken. Ein Sirren ertönte. Dann durchfuhr ihn ein scharfer Schmerz, als sich ein Pfeil in seine linke Wade bohrte.
*
Das große Buschmesser in beiden Händen, hieb Isabel verzweifelt Ranken, Zweige und Palmwedel beiseite, die in den schmalen Pfad wuchsen. Sie blickte sich nicht um, wagte es nicht, aus Angst, die grimmigen Donowai-Krieger hinter sich zu sehen. Nur weiter, immer weiter vorwärts kämpfte sie sich, das Gesicht nass von Schweiß und Tränen.
Irgendwann blieb sie keuchend stehen. Lauschte. Der Urwald war erfüllt von Geräuschen; von Keckern, Summen, Schnarren, in ihren Ohren rauschte das Blut. Aber nirgendwo hörte sie menschliche Stimmen oder Schreie. Niemand folgte ihr.
Sie ließ das Messer sinken. Jetzt, nachdem der erste Schock vorüber war und sie wieder klarer denken konnte, begann sie zu zittern. Sie war zwar den Donowai entkommen, aber nun war sie völlig auf sich allein gestellt im papuanischen Urwald. Blattwerk und Ranken wuchsen dicht vor ihr, der Pfad war kaum noch auszumachen, sie war umschlossen von Bäumen und Grünzeug. Dank des Buschmessers fühlte sie sich zwar nicht vollkommen hilflos, aber vor giftigen Schlangen oder Pflanzen, die die Haut reizten, würde auch die Waffe sie nicht retten.
Erschöpft lehnte sie sich an einen Baumstamm und griff haltsuchend nach einem Ast. Ihre Finger fassten in etwas Weiches, Borstiges. Großer Gott! Ein leiser Schrei entfuhr ihr, entsetzt zuckte sie zurück. Dann sah sie, dass es sich bei dem Borstigen um eine große, haarige Raupe handelte, die an dem Ast entlangkroch. Noah hätte ihr die Raupe womöglich zum Essen angeboten.
Noah … Ein hysterisches Lachen stieg in ihr auf und verwandelte sich gleich darauf in ein verzweifeltes Schluchzen.
War er tot? Hatten die Donowai ihn umgebracht? Grausige Bilder nahmen in ihrem Kopf Gestalt an. Wie sie ihn mit Pfeilen durchbohrten oder ihn mit ihren Keulen mit dem sternförmigen Aufsatz erschlugen.
Oder hatten sie ihn wieder gefangen genommen? Was würde ihn dann erwarten – womöglich ein langsamer, qualvoller Tod? Dann wäre es besser, wenn sie ihn gleich getötet hätten.
Aber Noah hatte schon in der Vergangenheit bewiesen, dass er sich auch aus scheinbar aussichtslosen Situationen wieder herausmanövrieren konnte. Womöglich hatte auch er entkommen können und schlug sich nun genau wie sie durch den Busch? Isabel strich sich die Tränen aus dem Gesicht und zwang sich zur Vernunft. Sie musste jetzt zuerst an sich selbst denken. Noah hatte gewollt, dass sie entkam. Sein Opfer sollte nicht umsonst gewesen sein. Und vielleicht war noch nicht alles zu spät. Vielleicht lebte er noch, und es lag an ihr, Hilfe zu holen.
Noah hatte behauptet, er habe eine Forschergruppe gesehen, die sich flussaufwärts bewege. Hatte er die Wahrheit gesagt? Gab es diese Expedition wirklich? Oder hatte er ihr nur leere Hoffnungen machen wollen?
Jetzt erst merkte sie, dass sie schrecklichen Durst hatte. Da sie nicht wusste, ob sie das Wasser aus dem Fluss trinken konnte, hieb sie ein paar der armdicken Lianen durch, wie Noah es ihr gezeigt hatte. Die ersten waren holzig und vertrocknet, aber dann fand sie eine, aus der frische, klare Flüssigkeit lief, mit der sie ihren Durst stillen konnte.
Sie bahnte sich ein paar weitere Schritte mit dem Buschmesser den Weg durch Ranken und Unterholz, rutschte aus, stieß sich Knie oder Knöchel an rauem Holz, riss sich die Haut an Dornen auf, dann blieb sie schwer atmend stehen. So hatte das keinen Sinn. Sie wandte sich seitwärts und kämpfte
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