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Im hohen Gras

Im hohen Gras

Titel: Im hohen Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S King
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rotorange Mondlicht und dachte: Alles wird gut. Überall auf der Welt werden Kinder auf Feldern geboren.
    Es war Justine.
    »Hallo, kleines Mädchen«, krächzte sie. »Ui, wie winzig du bist.«
    Und so still.

    Aus der Nähe war gut zu erkennen, dass der Fels nicht aus Kansas stammte. Wie Vulkangestein hatte er die Beschaffenheit von schwarzem Glas. Das Mondlicht warf einen schillernden Glanz von Kante zu Kante und schuf dabei jadegrüne und perlmuttfarbene Lichtflecken auf der Oberfläche.
    Die Strichmännchen hatten die Hände erhoben und tanzten in wogendem Gras. Cal konnte nicht erkennen, ob die Bilder in den Stein geschnitten oder aufgemalt waren.
    Aus einer Entfernung von acht Schritten schienen sie über der Oberfläche des gewaltigen Brockens zu schweben, der mit großer Wahrscheinlichkeit nicht aus Obsidian bestand.
    Aus einer Entfernung von sechs Schritten schienen sie, Hologrammen gleich, unterhalb der Oberfläche zu hängen. Es war unmöglich, sie im Blick zu behalten. Es war unmöglich, den Blick abzuwenden.
    Vier Schritte von Fels entfernt konnte er ihn hören . Er gab ein dezentes Summen von sich wie der Glühfaden in einer Wolframglühlampe. Offenbar konnte er ihn aber nicht spüren – jedenfalls bekam er nicht mit, dass seine linke Gesichtshälfte wie von einem Sonnenbrand rosarot anlief. Er spürte keinerlei Wärme.
    Mach, dass du von hier wegkommst, dachte er, aber es fiel ihm sonderbar schwer, einen Schritt zurückzuweichen. Seine Beine schienen sich nicht mehr rückwärtsbewegen zu können.
    »Ich dachte, du wolltest mich zu Becky bringen.«
    »Ich hab gesagt, dass wir nach ihr gucken. Und das tun wir auch. Der Stein hilft uns dabei.«
    »Ich geb einen Scheißdreck auf deinen gottverdammten … Ich möchte zu Becky.«
    »Wenn Sie den Fels berühren, können Sie sich nicht mehr verirren«, sagte Tobin. »Nie wieder. Dann sind Sie erlöst. Toll, oder?« Geistesabwesend zupfte er sich die schwarze Feder aus dem Mundwinkel.
    »Nein«, sagte Cal. »Ist es nicht. Da verirre ich mich lieber.« Vielleicht bildete er sich das nur ein, aber das Summen schien lauter zu werden.
    »Niemand verirrt sich gern«, sagte der Junge freundlich. »Jedenfalls wüsste Becky im Augenblick gern, wo sie ist. Sie hatte eine Fehlgeburt. Wenn Sie sie nicht bald finden, stirbt sie wahrscheinlich.«
    »Du lügst«, sagte er ohne große Überzeugung.
    Gut möglich, dass er sich einen halben Schritt vorwärtsbewegt hatte. Aus der Mitte des Felsens, unmittelbar hinter den schwebenden Strichmännchen, erhob sich ein gedämpfter Lichtschein und zog Cal in seinen Bann … als wäre der summende Glühfaden einen halben Meter unter der Oberfläche des Steins verborgen und irgendjemand würde den Strom hochdrehen.
    »Von wegen«, sagte der Junge. »Schauen Sie doch genau hin, dann sehen Sie sie auch.«
    Tief im Rauchquarz des Felsens nahm er die schwachen Umrisse eines menschlichen Gesichts wahr. Erst glaubte er, in das eigene Spiegelbild zu blicken. Aber obwohl es ihm ähnlich sah, war er das nicht. Es war Becky. Sie hatte die Zähne fest zusammengebissen, und ihre Züge wurden von einer Grimasse des Schmerzes entstellt. Eine Gesichtshälfte war mit Dreck beschmiert. Die Halssehnen traten deutlich hervor.
    »Beck?«, sagte er, als könnte sie ihn hören.
    Er trat einen Schritt vor – er konnte nichts dagegen unternehmen – und beugte sich über den Fels. Er hatte die Hände erhoben, wie um sich selbst anzuflehen, nicht weiterzugehen. Dabei spürte er nicht, wie sich auf den Handflächen Blasen bildeten. Der Fels schien irgendeine Strahlung auszusenden.
    Nein, zu nahe, dachte er und versuchte, sich nach hinten zu werfen, aber seine Füße wollten keinen Halt finden, sondern rutschten weg, als stünde er auf einem Erdhügel, der unter ihm nachgab. Dabei war der Boden eben. Er rutschte vorwärts, weil der Stein ihn gepackt hatte, weil der Stein über seine eigene Schwerkraft verfügte und ihn anzog, wie ein Magnet Eisenspäne anzog.
    Tief in der riesigen, zerklüfteten Kristallkugel des großen Felsens öffnete Becky die Augen. Sie schien ihn voller Staunen und Entsetzen anzustarren.
    Das Summen in seinem Kopf schwoll an.
    Auch der Wind wurde stärker. Das Gras warf sich ekstatisch von einer Seite zur anderen.
    Im letzten Moment wurde ihm bewusst, dass seine Haut in dem unnatürlichen Klima, das dicht um den Fels herum herrschte, zu brennen anfing. Er wusste, dass er den Stein nicht berühren durfte. Das wäre genau so, als würde er

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