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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orwell George
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blitzartig klar, in wie verschiedenen Welten verschiedene Menschen leben. Da unten, wo die Kohle gebrochen wird, liegt eine Welt für sich, von der man unschwer sein ganzes Leben lang nie etwas zu hören braucht. Vermutlich würden das die meisten sogar vorziehen. Dabei ist es das absolut notwendige Gegenstück zu der Welt oben. Praktisch hängt alles, was wir tun, ob wir Eis essen, den Atlantik überqueren, Brot backen oder eine Erzählung schreiben, direkt oder indirekt mit der Kohle zusammen. Für alle Arbeiten des Friedens wird Kohle gebraucht. Bricht Krieg aus, wird sie noch mehr benötigt. In Revolutionszeiten muß der Bergmann seine Arbeit fortsetzen, oder die Revolution bricht zusammen, sie braucht nicht weniger Kohle als die Reaktion. Was auch auf der Erdoberfläche geschehen mag, das Brechen und Schaufeln von Kohle muß pausenlos weitergehen und darf nie länger als höchstens ein paar Wochen unterbrochen werden. Damit Hitler im Stechschritt anrücken, der Papst gegen den Bolschewismus wettern, die Massen in ›Lord’s‹ zu einem Cricket-Match zusammenströmen und die Dichter sich gegenseitig zerfleischen können, zu allem gehört Kohle. Wir sind uns dessen nur nicht bewußt; wir alle wissen zwar, daß wir Kohle haben müssen, aber nur selten oder nie denken wir daran, was mit diesem »Kohle bekommen« verbunden ist. Hier sitze ich zum Beispiel und schreibe vor einem behaglichen Kohlenfeuer. Es ist zwar April, aber ich muß noch heizen. Alle zwei Wochen hält der Wagen mit den Kohlen vor der Haustür, und Männer in Lederjacken bringen schwere, nach Teer riechende Säcke und leeren die Kohlen in den Verschlag unter der Treppe. Es bedarf bei mir einer ausgesprochenen gedanklichen Anstrengung, um eine Verbindung zwischen meiner Kohle und der fernen Arbeit in den Gruben herzustellen. Es ist eben »Kohle«, das heißt, etwas, was ich unbedingt haben muß, ein schwarzes Material, das auf geheimnisvolle Weise von einem nicht besonders gekennzeichneten Ort kommt, wie Manna vom Himmel, nur mit dem Unterschied, daß ich dafür zahlen muß. Man könnte ohne weiteres mit dem Wagen durch den Norden Englands fahren, ohne auch nur einmal daran zu denken, daß mehrere hundert Fuß unter der Straße Bergleute Kohle laden. Und doch sind es in gewissem Sinn eben diese Bergleute, die dafür sorgen, daß dein Wagen fährt. Ihre von Grubenlampen erhellte Welt ist für die Welt im Tageslicht ebenso notwendig wie die Wurzeln für eine Blume.
    Vor noch nicht allzulanger Zeit waren die Verhältnisse in den Gruben schlechter als heute. Es leben noch ein paar sehr alte Frauen, die in ihrer Jugend unter Tage gearbeitet haben, mit einer Art Geschirr um die Hüften und einer Kette, die zwischen den Beinen hindurchlief. Auf allen vieren kriechend mußten sie die eisernen Kohlentonnen den Stollen entlangzerren, selbst wenn sie schwanger waren. Das gibt es nicht mehr. Aber wenn man Kohle nicht anders fördern könnte als dadurch, daß schwangere Frauen eiserne Tonnen hin und her zerren müßten, ich glaube, wir würden das selbst heute eher zulassen, als auf Kohle zu verzichten. Aber natürlich würden wir ungleich lieber mit Stillschweigen darüber hinweggehen. Und so verhält es sich mehr oder weniger mit allen Arten von Schwerarbeit. Sie erhält uns am Leben, und wir sehen über ihr Vorhandensein hinweg. Vielleicht mehr als jeder andere ist der Bergarbeiter ein Musterbeispiel für diese Art Schwerarbeit, nicht nur, weil seine Arbeit so außergewöhnlich mühselig ist, sondern auch weil sie lebensnotwendig ist und sich dabei in einer von der unseren so weit entfernten Welt abspielt, daß wir sie ebenso vergessen können wie das Blut in unseren eigenen Adern. Es ist in gewisser Weise sogar beschämend, Grubenarbeitern zuzusehen. Es läßt in einem zeitweise Zweifel an der eigenen Stellung als »Intellektueller« und »Gebildeter« überhaupt aufkommen. Es wird einem klar, wenigstens solange man ihnen zusieht, daß, nur weil Kumpel sich die Eingeweide aus dem Leib schwitzen, geistig höherstehende Menschen auch geistig höher stehen können. Du und ich, der Herausgeber der literarischen Beilage der Times, die Dichter und der Erzbischof von Canterbury und Genosse X, der Verfasser von Marxismus für Kinder, wir alle verdanken in Wirklichkeit unseren verhältnismäßg anständigen Lebensstandard den armen Schweinen unter Tage, die schwarz bis an die Augen, die Kehlen voller Kohlenstaub, ihre Schaufeln mit Armen aus Stahl und mit Hilfe der

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