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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orwell George
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Bauchmuskeln in die Kohlenhaufen stoßen.
    Aus: The Road to Wigan Pier , ersch. 1937

Marrakesch
    Als der Tote draußen vorübergetragen wurde, verließen die Fliegen den Tisch im Restaurant und schwärmten in einer Wolke hinter ihm her, aber wenige Minuten später kehrten sie zurück.
    Die kleine Schar Trauernder – nur Männer und Burschen, keine Frauen – schlängelte sich über den Marktplatz, zwischen aufgetürmten Granatäpfeln, Taxis und Kamelen hindurch, von Zeit zu Zeit in ein kurzes, eintöniges Klagelied ausbrechend. Die Fliegen werden hier von den Leichen besonders deshalb angelockt, weil diese nicht in einem Sarg liegen, sondern eingehüllt in ein paar Lumpen auf einer rohen, hölzernen Bahre, die von einigen Freunden auf den Schultern getragen wird. Wenn der Zug die Begräbnisstätte erreicht hat, wird eine längliche Grube von ein bis zwei Fuß Tiefe ausgehoben, der Leichnam hineingelegt und mit der harten, trockenen Erde bedeckt, die wie zerbröckelter Ziegelstein aussieht. Kein Grabstein, kein Name, kein Zeichen der Erinnerung irgendwelcher Art. Die Gräberstätte ist nichts als eine weite, öde Fläche, uneben wie ein verlassener Bauplatz. Nach zwei Monaten könnte niemand mit Sicherheit sagen, wo selbst seine nächsten Angehörigen begraben sind.
    Wenn man durch eine Stadt wie diese wandert – 200000 Einwohner, von denen wenigstens 20000 buchstäblich nichts besitzen als die ärmlichen Lumpen, die sie am Leibe tragen –, wenn man sieht, wie diese Leute leben, und erst recht, wie leicht sie sterben, fällt es immer wieder schwer zu glauben, daß die Wesen, die einen umgeben, Menschen sind. Alle Kolonialreiche beruhen in Wirklichkeit auf dieser Tatsache. Die Leute haben braune Gesichter, und es gibt so viele von ihnen. Bestehen sie wirklich aus dem gleichen Fleisch wie man selbst? Haben sie überhaupt Namen? Oder sind sie nur eine braune, gleichförmige Masse, jeder mit soviel eigener Persönlichkeit wie eine Biene oder ein Korallentierchen? Sie kommen aus der Erde, hungern und schinden sich ein paar Jahre und sinken in die namenlosen Gruben der Gräberfelder, ohne daß ihr Verschwinden jemandem auffiele. Und auch ihre Gräber verschwinden und werden mit der Erde eins. Auf einem Spaziergang, bei dem man sich den Weg durch Feigenkakteen bahnen muß, klingt manchmal der Boden unter einem hohl, und nur der unregelmäßige Abstand, in dem sich der dumpfe Ton wiederholt, sagt einem, daß man über Skelette wandert.
    Ich fütterte in den öffentlichen Gärten eine der Gazellen. Gazellen gehören zu den wenigen Tieren, die schon zu ihren Lebzeiten eßbar aussehen. Beim Anblick ihrer Hinterkeulen fällt es tatsächlich schwer, nicht an Minzsoße zu denken. Die Gazelle, die ich fütterte, mochte erraten, daß mir derartige Gedanken durch den Kopf gingen. Sie nahm zwar das Brot, das ich ihr hinhielt, hatte aber offensichtlich eine Abneigung gegen mich. Nachdem sie hastig an dem Brot geknabbert hatte, senkte sie den Kopf und versuchte, mich mit ihren Hörnern zu stoßen. Dann knabberte sie ein Stück ab und stieß wieder nach mir. Vermutlich stellte sie sich vor, das Brot würde auf geheimnisvolle Weise in der Luft hängen bleiben, falls es ihr gelänge, mich zu verjagen.
    In der Nähe machte sich ein arabischer Gartenarbeiter am Weg zu schaffen. Nach einer Weile ließ er die schwere Hacke sinken und kam vorsichtig von der Seite auf uns zu. Seine Blicke wanderten von der Gazelle zum Brot und vom Brot zur Gazelle, in einer Art von stillem Staunen, als habe er noch nie etwas Ähnliches gesehen.
    Schließlich sagte er leise auf französisch:
    »Das Brot würde ich auch essen mögen.«
    Ich brach ein Stück ab, und er verstaute es dankbar in einer versteckten Tasche seiner zerlumpten Kleidung. Dieser Mann war Angestellter der Städtischen Verwaltungsbehörden.
    Kommt man in das Judenviertel der Stadt, kann man sich ungefähr vorstellen, wie die jüdischen Ghettos im Mittelalter ausgesehen haben. Unter ihren maurischen Herrschern durften die Juden nur in bestimmten, abgegrenzten Gebieten Land besitzen, und nach einer jahrhundertelangen Reglementierung dieser Art haben sie aufgehört, sich Sorgen um das Problem der Bevölkerungsdichte zu machen. Viele Straßen sind ein gutes Stück enger als sechs Fuß, die Häuser haben keine Fenster, und unvorstellbare Scharen augenkranker Kinder wimmeln wie Fliegenschwärme herum. Für gewöhnlich rinnt in der Straßenmitte ein kleiner Bach von Urin entlang.
    Am Basar sind

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