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Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orwell George
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wird ein Großteil davon bebaut, mit entsetzlicher Mühsal. Alle Arbeit wird mit der Hand verrichtet. Frauen in langen Reihen, vornübergebeugt wie ein auf den Kopf gestelltes großes L, wandern langsam über die Felder und säubern mit den Händen den Boden von dem stachligen Unkraut, während der Bauer Luzerne als Viehfutter sammelt und dabei Halm um Halm aus dem Boden zieht, statt es büschelweise auszurupfen, weil er dadurch ein oder zwei Inches der Erde rettet. Der Pflug ist aus Holz und so leicht und klein, daß man ihn unschwer auf die Schultern nehmen kann. An der Unterseite hat er einen roh geschmiedeten Dorn, der nicht tiefer als vier Inches in den Boden eindringt. Das entspricht genau der Kraft der Zugtiere, für gewöhnlich eine Kuh und ein Esel, die unter einem Joch gehen. Zwei Esel wären zu schwach, und zwei Kühe würden zuviel Futter kosten. Eine Egge besitzen die Bauern nicht, sie müssen also den Acker mehrere Male in verschiedenen Richtungen durchpflügen, bis er einigermaßen aufgelockert ist. Darauf wird das ganze Feld mit der Hacke in kleine Rechtecke geteilt, was der besseren Speicherung von Wasser dient. Abgesehen von den seltenen Regenfällen, die ein oder zwei Tage anhalten, herrscht immer Wassermangel. An den Rändern der Felder hebt man schmale Kanäle, etwa 30 Inches tief, mit der Hacke aus, um die spärlichen, unterirdischen Rinnsale zu sammeln.
    Jeden Nachmittag zieht eine Kolonne uralter Frauen unten an meinem Haus vorbei, jede mit einem großen Bündel Brennholz beladen. Alle machten den Eindruck von Mumien, eine Folge ihres Alters und der sengenden Sonne, und alle waren winzig. In primitiven Ländern scheint es die Regel zu sein, daß Frauen nach Erreichung eines bestimmten Alters zur Größe von Kindern zusammenschrumpfen.
    Eines Tages schleppte sich eins dieser alten, armseligen Geschöpfe, nicht größer als vier Fuß und von einer Last Brennholz fast erdrückt, mühsam an mir vorbei. Ich hielt sie an und drückte ihr ein Fünf-Sou-Stück in die Hand. Sie reagierte mit einem lauten Ausruf, fast einem Schrei, in dem Dankbarkeit, mehr aber noch Überraschung zum Ausdruck kamen. In ihren Augen war es, wie ich glaube, beinahe so etwas wie die Verletzung eines Naturgesetzes, daß ich von ihrem Vorhandensein Kenntnis genommen hatte. Sie hatte sich mit ihrer Lage als alte Frau abgefunden, das heißt als Lasttier. Wenn eine Familie über Land reist, ist es völlig in der Ordnung, daß der Vater und der älteste Sohn auf einem Esel voranreiten, während die Frau mit dem gesamten Gepäck auf dem Rücken zu Fuß hinterhergeht.
    Das Sonderbarste an dieser Bevölkerung bleibt ihre Unsichtbarkeit. Wochenlang, immer um die gleiche Stunde, waren alte Frauen mit Brennholz an meinem Haus vorübergehumpelt. Meine Augen hatten sie rein optisch wahrgenommen, aber ich muß gestehen, daß ich sie nie gesehen hatte. Das an mir vorbeiwandernde Brennholz hatte ich gesehen, aber das war auch alles. Erst als ich einmal zufällig hinter ihnen herging, lenkte das Auf und Ab der Holzbündel meine Aufmerksamkeit auf die menschlichen Wesen darunter. Zum erstenmal bemerkte ich die kleinen, erdfarbenen Gestalten; Knochengerüste, von einer ledernen Haut überzogen und zusammengekrümmt unter ihrer erdrückenden Last. Dagegen waren noch nicht fünf Minuten vergangen, seit ich den Fuß auf marokkanischen Boden gesetzt hatte, als mir schon die kleinen Esel auffielen, die unter ihrer Bürde fast zusammenbrachen, was mich zutiefst empörte. Es steht außer Frage, daß die marokkanischen Esel in der abscheulichsten Weise mißhandelt werden. Dabei sind sie kaum größer als Bernhardiner-Hunde. Ihnen werden Lasten aufgeladen, die man in der Britischen Armee nicht einmal einem ausgewachsenen Maultier zumuten würde. Einem solchen Esel wird oft wochenlang der Packsattel nicht vom Rücken genommen. Es gibt kein Geschöpf auf Erden, das williger wäre, und das rührt einen besonders an diesem Tier. Es folgt seinem Herrn wie ein Hund und braucht weder Zaumzeug noch Halfter. Nach etwa einem Dutzend Jahren unermüdlicher Arbeit bricht es eines Tages tot zusammen, worauf sein Herr es in einen Graben stößt und die Hunde im Dorf ihm die Eingeweide herausreißen, noch ehe es erkaltet ist.
    Solche Dinge bringen einem das Blut zum Sieden, was gegenüber dem Elend menschlicher Wesen im allgemeinen nicht der Fall ist. Das ist nicht als Anklage gemeint, ich stelle lediglich eine Tatsache fest. Jeder wird die Eselchen mit ihrem

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