Im Innern des Wals
ganze Familienverbände von Juden – die Männer durchweg in einem langen Kaftan und mit einer kleinen, schwarzen Kappe auf dem Kopf – in düsteren, höhlenartigen Werkstätten voller Fliegen an der Arbeit. Ein Drechsler sitzt, die Beine gekreuzt, an einer prähistorischen Drehbank und fertigt mit atemberaubender Schnelligkeit Stuhlbeine an, wobei er die Drehbank mit der rechten Hand ankurbelt, während er das Schnitzeisen mit dem linken Fuß dirigiert. Infolge der hockenden Stellung, die er sein Leben lang einnimmt, ist sein linkes Bein schief geworden, wie aus dem Gelenk gedreht. Ihm zur Seite sitzt sein sechsjähriger Enkel, der ihm schon bei den einfachen Vorarbeiten hilft.
Ich ging gerade vor der Werkstatt eines Kupferschmiedes vorbei, als einer bemerkte, daß ich mir eine Zigarette anzündete. Im Nu stürzten aus sämtlichen Höhlen der Nachbarschaft aufgeregte Juden, manche davon Großväter mit flatternden, grauen Bärten, und bettelten mich um eine Zigarette an. Sogar ein Blinder kam angekrochen, der in der Tiefe seines Gewölbes etwas von Zigaretten gehört hatte, und griff mit den Händen in der Luft danach. In weniger als einer Minute war ich mein ganzes Päckchen Zigaretten los. Meiner Schätzung nach arbeitet keiner von denen weniger als zwölf Stunden am Tag. Aber eine Zigarette erscheint ihnen wie ein unerschwinglicher Luxus.
Da die Juden in Gemeinden mit eigener Verwaltung leben, üben sie, abgesehen von der Landwirtschaft, die gleichen Berufe aus wie die Araber – Obst- und Gemüsehändler, Töpfer, Silberschmiede, Grobschmiede, Metzger, Lederarbeiter, Schneider, Wasserträger, Lastträger, Bettler. Wo immer man hinsieht, erblickt man nichts als Juden. Es sind tatsächlich 13000, die alle auf einem Fleck leben, der nicht größer ist als ein paar Morgen. Ein Glück, daß Hitler weit fort ist. Aber vielleicht ist er bereits im Anmarsch! Man hört die bekannten, gehässigen Bemerkungen, nicht nur von Arabern, auch von mittellosen Europäern.
»So ist es, mon vieux ! Sie haben mir meine Arbeit genommen und sie einem Juden gegeben. Die Juden! Sie sind die wahren Herrn des Landes, müssen Sie wissen! Sie haben alles Geld in Händen, sie kontrollieren die Banken, die Finanzen, alles …«
»Aber«, wandte ich ein, »es ist doch eine Tatsache, daß fast alle Juden arbeiten, und zwar für einen Penny die Stunde …«
»Ach was, das ist doch die reine Schau! In Wirklichkeit sind alle Geldverleiher. Oh, sie sind schlau, die Juden.«
Auf genau dieselbe Weise wurden vor ein paar hundert Jahren arme alte Frauen wegen Hexerei verbrannt, wo ihr Zauber oft nicht einmal ausreichte, um ihnen eine anständige Mahlzeit zu verschaffen.
Alle, die hier von ihrer Hände Arbeit leben, sind so gut wie unsichtbar, ja, je wichtiger ihre Arbeit ist, desto weniger nimmt man sie wahr. Eine weiße Haut fällt jedoch auf. Trifft man zum Beispiel in Nord-Europa einen Bauern, der ein Feld pflügt, so wird man ihm vermutlich wenigstens einen flüchtigen Blick schenken. In einem der heißen Länder irgendwo südlich von Gibraltar und östlich von Suez ist es möglich, daß man einen Bauern überhaupt nicht bemerkt. Ich habe das soundsooft an mir selbst beobachtet. In einer tropischen Landschaft nimmt das Auge alles auf, nur nicht menschliche Wesen. Es nimmt den ausgetrockneten Boden wahr, die Feigenkakteen, die Palmen, die fernen Gebirge – den Bauern, der sein Stück Land mit der Hacke bearbeitet, übersieht es. Er hat die gleiche Farbe wie die Erde und ist viel weniger interessant anzusehen.
Einzig und allein aus diesem Grunde sind die Hungergebiete Asiens und Afrikas für Touristen in Mode gekommen. Niemand würde sich einfallen lassen, billige Ferienreisen nach Notstandsgebieten zu organisieren. Wo aber menschliche Wesen von brauner Hautfarbe sind, nimmt man keine Notiz von ihrem Elend. Was bedeutet Marokko für einen Franzosen? Einen Orangenhain oder eine Anstellung bei der Regierung. Oder für einen Engländer? Kamele, Kastelle, Palmen, Fremdenlegionäre, Messingtabletts und Banditen. Wahrscheinlich könnte man hier jahrelang leben, ohne zu merken, daß das Leben für neun Zehntel der Bevölkerung ein pausenloser, zermürbender Kampf ist, dem erschöpften Boden etwas Nahrung abzuringen.
Marokko besteht zum größten Teil aus einer Einöde, in der bis auf Hasen kein Wildtier leben kann. Weite Gebiete, die einmal Wälder waren, haben sich in baumlose Wüste verwandelt, wo der Boden hart ist wie Ziegelstein. Trotzdem
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