Im Innern des Wals
was man fühlen müßte, statt es einen tatsächlich fühlen zu lassen. Zum Glück, vielleicht im Hinblick auf seinen Glauben, starb er, noch bevor der Aufstieg der Großindustrie und die Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte der Einwanderer den Verfall dieses Lebens in Amerika einleitete.
Millers Anschauungen sind eng mit denen von Whitman verwandt, und wohl jeder, der ihn gelesen hat, wird das bestätigen. Wendekreis des Krebses endet mit einer ausgesprochen Whitmanschen Passage, in der nach den Ausschweifungen, den Schwindeleien, Kämpfen, Saufgelagen und Dummheiten aller Art er sich einfach hinsetzt und auf die vorüberfließende Seine blickt, in einer Art von mystischer Bejahung des Lebens, wie es einmal ist. Nur, was bejaht er eigentlich? Zunächst nicht Amerika, sondern den alten Knochenhaufen Europa, wo jeder Zoll Erde aus den Resten unzähliger Generationen besteht. Zweitens, nicht jene Zeit der Ausdehnung und der Freiheit, sondern die Ära der Furcht, der Tyrannei und der Verordnung. Wenn ich in einer Zeit wie der unseren zum Leben »Ja« sage, ist dies ein Ja zu Konzentrationslagern, Gummiknüppeln, zu Hitler und Stalin, Bomben, Flugzeugen, Konserven, Maschinengewehren, Putschen, Säuberungen, Slogans, Gasmasken, Unterseebooten, Spionen, Provokateuren, Pressezensur, Bedaux-Gürteln, geheimen Gefängnissen, Aspirin, Hollywood-Filmen und politischen Morden. Natürlich nicht nur zu alldem, aber zu alldem unter anderem. Und im großen und ganzen ist das Henry Millers Einstellung. Nicht immer, denn momentweise finden sich auch bei ihm Anzeichen für eine ganz normale Sehnsucht nach Vergangenem. Im ersten Teil von Schwarzer Frühling gibt es einen Abschnitt, der stilistisch als eine der bemerkenswertesten literarischen Leistungen der letzten Jahre angesehen werden muß, in dem das Mittelalter verherrlicht wird. Es zeigt eine Einstellung, die von der Chestertons nicht sehr verschieden ist. Max and the White Phagocytes enthält einen Angriff auf die moderne Zivilisation Amerikas (Cornflakes, Cellophan etc.) unter dem üblichen Gesichtspunkt des Literaten, dem die Industriegesellschaft verhaßt ist. Aber ganz allgemein gesprochen bedeutet diese Einstellung: »Schlucken wir alles hinunter.« Und von daher kommt die scheinbar ausschließliche Beschäftigung mit obszönen Vorgängen und der schmutzigen Unterseite des Lebens. Das ist nur scheinbar, denn es ist die Wahrheit, daß das Leben, das gewöhnliche Alltagsleben, weitaus schrecklicher ist, als Romanschreiber im allgemeinen zugeben wollen.
Whitman selbst »bejahte« viel von dem, was seine Zeitgenossen lieber mit Schweigen übergingen. Er besang nämlich nicht nur die Prärie, er wanderte auch durch die Städte und sah den zerschmetterten Schädel des Selbstmörders, die »grauen kranken Gesichter von Onanisten« etc. etc. Dennoch ist die heutige Zeit, jedenfalls in Westeuropa, fraglos weniger gesund und weniger hoffnungsfreudig als jene. Im Gegensatz zu ihr leben wir in einer schrumpfenden Welt. Die »demokratischen Ausblicke« haben ihr Ende hinter Stacheldraht gefunden. Das Gefühl von Schöpfung und Wachstum hat nachgelassen, die endlos schaukelnde Wiege soviel an Bedeutung verloren, wie die endlos dampfende Teekanne gewonnen hat. Die Zivilisation zu bejahen, so wie sie ist, heißt logischerweise den Verfall bejahen. Die allgemeine Einstellung ist nicht mehr aktiv, sie ist passiv geworden – sogar »dekadent«, wenn dieses Wort überhaupt etwas besagt.
Aber gerade weil Miller in gewissem Sinne Erlebnissen passiv gegenübersteht, ist er zugleich fähig, dem einfachen Mann näherzukommen, als es den meisten engagierten Schreibern gelingt. Denn auch der einfache Mann ist passiv. Innerhalb eines kleinen Kreises (Familienleben und vielleicht noch die Gewerkschaft oder Kommunalpolitik) fühlt er sich als Herr seines Geschicks, aber größeren Ereignissen gegenüber ist er ebenso hilflos wie gegenüber Naturgewalten. Weit entfernt von jeder Anstrengung, Einfluß auf die Zukunft zu nehmen, läßt er sich fallen und alles über sich ergehen. Im Lauf der letzten zehn Jahre hat sich die Literatur in immer stärkerem Maße der Politik zugewandt, mit der Folge, daß heute für den einfachen Mann weniger Raum bleibt als je in den letzten zweihundert Jahren. Man kann die Veränderung in der vorherrschenden literarischen Haltung deutlich feststellen. Wenn man die Bücher, die den Spanischen Bürgerkrieg behandeln, mit den Büchern über den Ersten Weltkrieg vergleicht,
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