Im Innern des Wals
dicht vor dem Verhungern, wird von einer reichen Witwe aufgegabelt, die ihn heiraten will. Es folgen endlose hamletische Gespräche, bei denen Karl die Frage zu beantworten sucht, was schlimmer ist, zu hungern oder mit einer alten Frau zu schlafen. Bis ins kleinste Detail beschreibt er seine Besuche bei der Witwe, wie er sie in seinem besten Anzug aufsucht, jedoch vergessen hat, vorher zu urinieren, so daß er den ganzen Abend Höllenqualen aussteht etc. etc. Zum Schluß stellt sich heraus, daß alles nicht stimmt, die Witwe existiert nicht einmal, Karl hat sie einfach erfunden, um sich interessant zu machen. Auf dieser Linie liegt mehr oder weniger das ganze Buch. Was ist nun eigentlich der Grund, warum faszinieren einen diese monströsen Trivialitäten? Sehr einfach – weil man die ganze Atmosphäre so gründlich kennt und das Gefühl hat, daß diese Dinge einem selbst begegnen. Man hat dieses Gefühl, weil sich einer entschlossen hat, mit der geschraubten Ausdrucksweise des Durchschnittsromans aufzuräumen und die wirklichen Triebkräfte menschlichen Denkens und Handelns bloßzulegen. Im Fall Miller geht es nicht so sehr darum, den Mechanismus des menschlichen Geistes zu durchforschen, als sich vielmehr zu den alltäglichen Dingen und Gefühlen zu bekennen. Die Wahrheit ist nämlich, daß viele durchschnittliche Menschen, vielleicht sogar die Mehrheit, genauso sprechen und sich in derselben Weise benehmen, wie er sie hier aufgezeichnet hat. Der ordinäre Ton, in dem die Menschen im Wendekreis des Krebses sprechen, findet sich in den Romanen nur selten, im gewöhnlichen Leben dagegen sehr oft. Ich selbst habe ähnliche Unterhaltungen immer und immer wieder zwischen Leuten gehört, die nicht einmal merkten, wie ordinär sie sprachen. Bemerkenswert, daß Wendekreis des Krebses nicht das Werk eines jungen Mannes ist. Miller hatte die Vierzig bereits überschritten, als es herauskam, und obwohl er seitdem drei oder vier weitere Bücher veröffentlicht hat, steht außer Zweifel, daß das erste, das er jahrelang mit sich herumgetragen hat, auch sein bestes Buch ist. Es gehört zu den Büchern, die langsam herangereift sind, in Armut und von unbekannten Leuten geschrieben, die wissen, was sie vorhaben und daher warten können. Die Prosa ist erstaunlich, in Schwarzer Frühling teilweise sogar noch besser. Leider kann ich nichts zitieren, es wimmelt von nicht wiederzugebenden Wörtern. Man besorge sich Wendekreis des Krebses , man besorge sich Schwarzer Frühling und lese besonders die ersten hundert Seiten. Sie vermitteln einem eine Vorstellung von dem, was man selbst heute noch mit der englischen Sprache anfangen kann. Englisch wird darin als lebende Sprache gesprochen, ohne Furcht, das heißt, ohne Furcht vor Rhetorik oder vor ungewöhnlichen oder poetischen Wörtern. Nach Jahren der Verbannung ist das Adjektiv zurückgekehrt. Es ist eine fließende, wogende Prosa, eine Prosa, die Rhythmus hat, etwas gänzlich anderes als die flachen vorsichtigen Aussagen und das Snack-Bar-Geplapper, das im Moment modern ist.
Wenn ein Buch wie Wendekreis des Krebses erscheint, fällt natürlich als erstes seine Obszönität auf. Nimmt man unsere Vorstellungen von Sitte und Anstand in der Literatur als gegeben, dann ist es nicht einfach, vorbehaltlos zu einem so obszönen Buch Stellung zu nehmen. Entweder ist man schockiert und angewidert, oder man verschlingt es gierig, oder man ist entschlossen, sich nicht beeindrucken zu lassen. Letzteres dürfte vermutlich die Reaktion der meisten sein, mit dem Ergebnis, daß verbotene Bücher oft weniger Beachtung finden, als sie verdienen. Man hört vielfach die Meinung, nichts sei leichter, als ein obszönes Buch zu schreiben, und daß sie nur deshalb geschrieben werden, um Aufsehen zu erregen und Geld zu machen etc. etc. Ganz offensichtlich ist das nicht der Fall, und zwar deshalb, weil Bücher, die vom Standpunkt des Staatsanwalts aus obszön sind, nur selten erscheinen. Wenn es so einfach wäre, mit unanständigen Wörtern Geld zu verdienen, so würden es mehr Schriftsteller tun. Aber da es gar nicht so viele »obszöne« Bücher gibt, ist man geneigt, sie in völlig unberechtigter Weise alle in einen Topf zu werfen. Wendekreis des Krebses ist mit zwei anderen Büchern in eine vage Verbindung gebracht worden, Ulysses und Voyage au Bout de la Nuit (Reise ans Ende der Nacht von L. F. Celine [Destouches], ersch. 1932), aber in keinem der beiden Fälle besteht viel Ähnlichkeit. Was Miller mit
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