Im Innern des Wals
Jahre alt war, kannte ich, wie ich glaube, fast den ganzen Shropshire Lad (Gedichte, ersch. 1896) auswendig. Ich frage mich, welchen Eindruck er heute auf einen Jugendlichen vom gleichen Alter und vom gleichen geistigen Niveau machen würde. Zweifellos hat er davon gehört, er hat vielleicht sogar einen Blick hineingeworfen und war überrascht, daß es auf ziemlich billige Weise effektvoll ist – das wäre vermutlich alles. Und doch waren das die Gedichte, die ich und meine Zeitgenossen uns ständig gegenseitig vortrugen, in einer Art von Ekstase, so wie frühere Generationen Merediths »Love in a Valley« oder Swinburnes »Garden of Proserpine« etc. etc. rezitiert hatten:
With rue my heart is laden
For golden friends I had,
For many a roselipt maiden
And many a lightfoot lad.
By brooks too broad for leaping
The lightfoot boys are laid;
The roselipt girls are sleeping
In fields were roses fade.
[Mein Herz ist voller Weh, denn ich hatte goldene Freunde. Viele Mädchen mit rosigem Mund und viele leichtfüßige Knaben. An Bächen, zu breit für einen Sprung hinüber, lagern die leichtfüßigen Knaben. Die Mädchen mit dem Rosenmund schlafen in Feldern neben verblühenden Rosen.]
Na ja, ein Wortgeklingel. Uns schien es 1920 nicht so. Warum zerplatzt jede Seifenblase? Um diese Frage zu beantworten, muß man die äußeren Umstände in Betracht ziehen, durch welche ein Schriftsteller zu einer bestimmten Zeit populär wird. Die Gedichte von Housman hatten bei ihrem ersten Erscheinen nicht viel Aufsehen erregt. Woran lag es also, daß sie auf eine einzige Generation, nämlich die, die etwa 1900 zur Welt kam, einen so tiefen Eindruck machte?
Vor allem ist Housman ein »Landschaftspoet«. Seine Gedichte enthalten den ganzen Zauber versteckter Dörfer, das sehnsüchtige Heraufbeschwören von Ortsnamen: Clunton, Clunbury, Knighton, Ludlow, »zu Wenlock Edge«, »zur Sommerszeit in Bredon«, Schindeldächer und das Hämmern des Dorfschmieds, die wilden Narzissen auf der Weide, die »blauen Hügel der Erinnerung«. Abgesehen von Kriegsgedichten, haben englische Verse aus den Jahren 1910–1925 vornehmlich die Natur zum Gegenstand. Der Grund liegt zweifellos darin, daß der von seinen Zinsen lebende Teil der Besitzenden endgültig keine Beziehung mehr zur Scholle hatte; doch auf jeden Fall herrschte dort, viel mehr als jetzt, eine Art Snobismus vor, zum Land zu gehören und das städtische Leben zu verachten. England trieb um jene Zeit kaum mehr Ackerbau als heute, aber bevor die Konsumgüter-Industrie anfing sich auszubreiten, konnte man es leichter als Agrarland sehen. Die meisten Sprößlinge der Mittelklasse wuchsen in Sichtweite einer Farm auf, und natürlich begeisterte sie deren idyllische Seite – Pflügen, Ernten, Dreschen und so weiter. Wenn sie nicht selber Zugriffen, machten sie sich wahrscheinlich keine Vorstellung von der entsetzlichen Knochenarbeit, die mit der Rübenernte und dem Melken von Kühen mit entzündeten Eutern frühmorgens um vier verbunden ist. Kurz vor, während und nach dem Krieg schlug die große Stunde der »Landschafts-Dichter«, die Sternstunde von Richard Jefferies und W. H. Hudson. Rupert Brookes »Grantchester«, das klassische Gedicht von 1913, ist ein einziger ungeheurer Erguß von »Landschaftsgefühl«, die gewaltsame Entleerung eines mit Ortsnamen vollgestopften Bauches. Als Gedicht ist »Grantchester« weniger als wertlos, aber als Dokument für das, was die Intelligenten unter den Jüngeren der Mittelklasse damals fühlten , ist es aufschlußreich.
Immerhin begeisterte sich Housman nicht nur für Kletterrosen, in der Art eines Wochenend-Ausflüglers wie Brooke und die andern. Das »Landschaftsmotiv« ist bei ihm immer da, doch hauptsächlich als Hintergrund. Seine meisten Gedichte haben ein quasi menschliches Anliegen, eine Art von idealisiertem Bauerntum, im Grunde ein modernisierter Strephon oder Corydon. Schon das sprach stark an. Erfahrungsgemäß lesen überzivilisierte Kreise gern etwas über das Bäuerliche, weil sie sich einbilden, es sei primitiver und gefühlsreicher als sie selbst, daher die »Schwarze-Scholle«-Romane von Sheila Kaye-Smith etc. Zu jener Zeit identifizierte sich ein Junge der Mittelklasse in seiner Schwärmerei für das »Land« mit einem Landarbeiter, was ihm bei einem Industriearbeiter nie eingefallen wäre. Die meisten Jungen trugen eine idealisierte Vorstellung von dem Mann hinterm Pflug, Zigeunern, Wilddieben oder Wildhütern mit sich herum,
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