Im Innern des Wals
Joyce gemeinsam hat, ist die Bereitschaft, die leeren, häßlichen Umstände des Alltags zu zeigen. Läßt man die Verschiedenheit der Technik beiseite, so würde zum Beispiel die Begräbnisszene in Ulysses in den Wendekreis des Krebses hineinpassen. Das ganze Kapitel ist so etwas wie eine Entblößung, ein Exposé der entsetzlichen Fühllosigkeit menschlicher Wesen. Damit ist jedoch die Ähnlichkeit bereits zu Ende. Rein als Kunstwerk genommen steht Wendekreis des Krebses weit unter Ulysses . Joyce ist in genau dem gleichen Sinne ein Künstler, in dem Miller es nicht ist und wahrscheinlich auch gar nicht sein will. Auf jeden Fall versucht Joyce, mehr zu sein. Er durchforscht verschiedene Bewußtseinsstadien, den Traum, die »Reverie« (das »Bronze-bei-Gold«-Kapitel), den Rausch etc., und fügt sie alle zu einem gewaltigen, vielfältigen Bild zusammen, fast wie ein viktorianischer Plot. Miller ist ganz einfach ein hartgesottener Kerl, der über das Leben redet, ein gewöhnlicher amerikanischer Geschäftsmann mit intellektueller Courage und schriftstellerischer Begabung. Es ist vielleicht bezeichnend, daß er genauso aussieht, wie jeder sich einen amerikanischen Geschäftsmann vorstellt. Was den Vergleich mit Voyage au Bout de la Nuit angeht, so ist es unter diesem Gesichtspunkt noch weiter von Millers Buch entfernt. In beiden werden obszöne Wörter benutzt, beide sind gewissermaßen autobiographisch, das ist alles. Voyage au Bout de la Nuit ist ein Buch, das eine bestimmte Absicht enthält, nämlich gegen die Grausamkeit und Hohlheit des modernen Lebens zu protestieren – des Lebens überhaupt. Es ist ein Aufschrei des unerträglichen Ekels, eine Stimme aus der Jauchegrube. Wendekreis des Krebses ist so ziemlich genau das Gegenteil. Die Sache ist so ungewöhnlich, daß sie fast anormal erscheint, aber es ist das Buch eines Menschen, der glücklich ist. So, wenn auch in geringerem Maße, Schwarzer Frühling , über dem stellenweise ein Schatten von Nostalgie liegt. Nach Jahren eines Lebens als Lumpen-Proletarier, Jahren des Hungers, des Herumtreibens, des Schmutzes, der Mißerfolge, der Nächte im Freien, der Streitigkeiten mit Einwanderungsbehörden, endloser Kämpfe um ein bißchen Geld, findet Miller, daß er mit sich glücklich ist. Genau diese Seiten des Lebens, die Céline mit Entsetzen erfüllen, sind diejenigen, die ihn befriedigen. Weit entfernt, dagegen zu protestieren, bejaht er sie. Und gerade dieses Wort bejahen weist auf seine wirkliche Verwandtschaft mit einem andern Amerikaner hin, Walt Whitman.
Ein seltsamer Gedanke, sich vorzustellen, Whitman hätte in unseren dreißiger Jahren gelebt. Es ist mehr als fraglich, ob er dann etwas geschrieben hätte, was auch nur entfernt den Grashalmen (Leaves of Grass, ersch. 1855) geglichen hätte, denn was er schließlich sagt, ist doch: »Ich bejahe.« Aber natürlich besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen einer Bejahung von heute und einer von damals. Whitman schrieb in einer Zeit beispiellosen Wohlstands, mehr noch, er lebte in einem Land, in dem Freiheit mehr war als ein bloßes Wort. Die Demokratie, Gleichheit und Brüderlichkeit, die er ständig besingt, waren keine nebelhaften Ideale, sondern etwas, was er jeden Tag vor Augen hatte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts fühlten sich die Amerikaner frei und gleich, und sie waren es sogar, soweit das überhaupt in einer Gesellschaft möglich ist, die nicht den reinen Kommunismus verwirklicht hat. Es gab Armut und Klassenunterschiede, aber abgesehen von den Negern keine ständig unterdrückte Klasse. Jeder hatte die innere Überzeugung, genug zu verdienen, um anständig leben zu können, ohne jemandem die Stiefel lecken zu müssen. Wenn man bei Mark Twain über die Mississippi-Flößer und Schiffs-Kapitäne oder bei Bret Harte über die Goldgräber im Westen liest, so erscheinen sie einem ferner als steinzeitliche Kannibalen. Der Grund liegt einfach darin, daß sie freie menschliche Wesen waren. Dasselbe gilt für das friedliche, häusliche Amerika der Oststaaten, das Amerika von Little Women , Helen’s Babies und Riding Down from Bangor (von Louisa Alcott, ersch. 1868; von John Habberton, ersch. 1867; Liedanfang; vgl. Orwells Artikel über Helen’s Babies : in Tribune 22.11.1946). Beim Lesen spürt man das überschäumende, sorglose Leben beinahe körperlich. Es ist dieses Leben, das Whitman verherrlicht. Auch wenn es ihm nur sehr schlecht gelingt, ist er doch einer der Schriftsteller, die schreiben,
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