Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Innern des Wals

Im Innern des Wals

Titel: Im Innern des Wals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orwell George
Vom Netzwerk:
regelmäßig wie das Läuten einer Glocke. Der Hund antwortete mit Gewinsel. Der Henker, der noch immer oben auf der Plattform stand, zog einen kleinen Baumwollsack hervor, einem Mehlsack ähnlich, und zog ihn dem Verurteilten über den Kopf. Aber das Rufen hielt an, jetzt etwas durch den Stoff gedämpft: »Rem – Rem – Rem – Rem …«, gleichmäßig, unaufhörlich.
    Der Henker kletterte herunter und stand, die Hand am Mechanismus, bereit. Es schien Minuten zu dauern. Das einförmige Rufen des Gefangenen ging ohne Unterbrechung weiter, immer gleichbleibend fest und laut. Der Direktor, das Kinn auf die Brust gesenkt, stocherte mit seinem Stock im Sand. Vielleicht zählte er mit, hatte dem Gefangenen bis zu einer bestimmten Zahl, etwa fünfzig oder hundert, eine Frist gesetzt. Wir alle hatten die Gesichtsfarbe gewechselt. Die Inder sahen grau aus wie abgestandener Kaffee, und die Spitzen von einem oder zwei Bajonetten begannen zu zittern. Wir starrten auf den gefesselten Mann mit der Haube über dem Kopf und lauschten auf seine Rufe, von denen jeder eine weitere Sekunde Leben bedeutete. Wir alle hatten nur den einen Gedanken: Tötet ihn schnell macht rasch – macht diesen entsetzlichen Rufen ein Ende!
    Plötzlich erwachte der Direktor aus seiner Erstarrung. Mit einem Ruck hob er den Kopf, schwang den Stock in die Höhe und rief fast zornig: »Chalo!«
    Ein klirrendes Geräusch, dann Totenstille. Der Gehängte war verschwunden. Nur der Strick drehte sich um sich selbst. Ich ließ den Hund los. Er lief sofort zur Hinterseite des Galgenbaues, machte aber, kaum dort angelangt, jäh halt, bellte und zog sich dann in die äußerste Ecke des Hofes zurück, wo er in dem hohen Gras stehen blieb und furchtsam zu uns herüberblickte. Wir gingen um den Galgen herum, um den Gehängten zu sehen. Er hing in der Schlinge, die Zehen nach unten gerichtet, leicht schaukelnd und tot wie ein Stein.
    Der Direktor hob seinen Stock und stieß damit den nackten Körper an, er pendelte leicht. »Er ist in Ordnung«, sagte der Direktor. Er trat rückwärts unter dem Galgen ins Freie und atmete tief aus. Sein diskreter Blick war mit einemmal verflogen. Er schaute auf die Armbanduhr: »Acht Minuten nach acht. Das war’s für heute vormittag. Gott sei’s gedankt.«
    Die Wärter nahmen die Bajonette von ihren Gewehren und marschierten ab. Der Hund, der sich beruhigt hatte und wohl spürte, daß er sich schlecht benommen hatte, lief hinter ihnen her. Wir verließen den Galgenhof, kamen wieder an den Zellen der wartenden Verurteilten vorbei und begaben uns zum großen Innenhof des Gefängnisses. Unter Aufsicht von Wärtern, die mit Lahtis bewaffnet waren, wurde bereits das Frühstück an die Gefangenen ausgegeben. Sie hockten in langen Reihen am Boden, jeder mit einem Blechnapf in der Hand. Zwei Wärter mit Eimern machten die Runde und teilten Reis aus. Nach der Hinrichtung kam einem die Szene beinahe häuslich, vergnügt vor. Wir alle empfanden eine ungeheure Erleichterung, jetzt, wo die Sache hinter uns lag. Man hatte geradezu Lust, zu lachen, zu laufen, irgendwelchen Unsinn zu machen, und wirklich fingen alle mit einemmal an, laut durcheinanderzuschwatzen.
    Der junge Eurasier, der neben mir ging, machte mit dem Kopf eine Bewegung in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und sagte mit einem wissenden Lächeln: »Sir, wußten Sie, daß unser Freund (er meinte den Gehängten) den Fußboden in seiner Zelle vollgepißt hat, als er hörte, daß seine Berufung abgelehnt worden ist? Aus Angst. – Bitte nehmen Sie doch eine von meinen Zigaretten, Sir. Finden Sie mein neues silbernes Zigarettenetui nicht auch schön? Vom Basar – zwei Rupien acht Anas. Klassischer europäischer Stil.«
    Einige lachten – worüber schien niemand zu wissen. Francis ging laut schwatzend neben dem Direktor. »Also, Sir, es ist doch alles zur äußersten Befriedigung gutgegangen. Ganz schnell Schluß – schnapp und aus –,  ja so. Iss nicht immer so, o nein, ich habe schon erlebt, daß der Doktor unter den Galgen kriechen mußte und den Gefangenen an den Beinen ziehen, um ganz sicher zu sein, daß er tot war. Widerlich, so was!«
    »Zappeln noch herum – ja, das ist scheußlich«, sagte der Direktor.
    »Ach, Sir, es gibt Schlimmeres – zum Beispiel, wenn sie sich wehren. Ich erinnere mich an einen, der sich an den Gitterstäben festhielt, als wir kamen, um ihn zu holen. Ob Sie es glauben oder nicht, Sir, aber es waren sechs Wärter nötig, um ihn loszureißen.

Weitere Kostenlose Bücher