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Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)

Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Im Irrgarten der Intelligenz: Ein Idiotenführer (edition suhrkamp) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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an, daß sich komplexe Phänomene auf einer eindimensionalen Skala messen und auf diese Weise in eine eindeutige Reihenfolge bringen lassen wie etwa der Rang eines Fußballclubs anhand der Punktzahl und des Torverhältnisses. Bei Erscheinungen, die, wie die Intelligenz, ihrer Natur nach mehrdimensional sind, müssen solche Zuordnungen versagen. Mit anderen Worten: Die Meßergebnisse, die ein IQ-Test liefert, sind weiter nichts als statistische Artefakte.
    Das gilt besonders für die sogenannte Faktorenanalyse, eine Methode, auf die keiner der üblichen Tests verzichtet. Ihren Kardinalfehler sieht Gould darin, daß sie zur Verwechslung von Ursachen und Korrelationen führt. Der Autor trifft beispielsweise die wenig überraschende Feststellung, daß sein Lebensalter mit jedem Jahr zunimmt. Gleichzeitig steigt vielleicht der Preis des Emmentaler Käses, die Einwohnerzahl von Mexiko und die durchschnittliche Entfernung der Galaxien. Zwischen diesen Größen läßt sich dann eine hohe positive Korrelation ausmachen. Das bedeutet aber durchaus nicht, daß Goulds Lebensalter steigt, weil der Schweizer Käse teurer wird.
    Unter den Wissenschaftlern hat diese Frontalkritik einen handfesten Krach ausgelöst. Viele Psychologen haben wütend auf sie reagiert, allen voran Hans Jürgen Eysenck: »Gould greift auf schamlose Weise die Reputation wissenschaftlicher Koryphäen an, mit denen er nicht einverstanden ist. Diese Angriffe entbehren jeder faktischen Grundlage.« Zum Schweigen gebracht hat er damit Goulds Argumente kaum; sie kehren in zahlreichen neueren Publikationen wieder.

X.
Hinauf, empor!
    Bei all diesen Debatten spielt jedoch ein ganz anderes, vielleicht noch fundamentaleres Defizit der Intelligenzmessung eine Aschenputtel-Rolle. Um es zu beschreiben, genügt eine ganz einfache Umkehrung der Perspektive. Wir stellen uns die folgende Versuchsanordnung vor. Ein beliebiger Forscher aus Stanford, London oder Berlin wird mit einer der folgenden Personen konfrontiert, die seine Intelligenz einschätzen sollen:
    a) mit einem Inuit aus Grönland,
    b) mit einem Indio aus dem Amazonasbecken,
    c) mit einem Seefahrer aus Polynesien.
    Es gehört wenig Phantasie dazu, um zu erraten, wie ein solcher Test ausfiele. Unser Experte wäre hoffnungslos überfordert. Schon daß er es mit Analphabeten zu tun hätte, würde ihn wahrscheinlich irritieren. Vollends verstört wäre er, wenn diese Leute seine geistigen Fähigkeiten daraufhin überprüfen würden, ob sie ausreichten, Tausende von Pflanzen zu unterscheiden, Fährten zu lesen oder tiefe Strömungen an winzigen Nuancen der Meeresoberfläche zu erkennen. Die Blamage wäre eklatant.
    Eine Ahnung von der entscheidenden Bedeutung kultureller Unterschiede hat die Intelligenzforscher gelegentlich beschlichen, so zum Beispiel John C. Raven, der 1956 einen sogenannten Matrizentest entworfen hat, um sprachliche oder kulturabhängige Fehlerquellen bei der Messung auszuschließen. 22 Ihm war jedoch, wie allen ähnlichen Versuchen, kein Erfolg beschieden. »Vermutlich«, sagen die meisten Autoren, die sich dieser Problematik gewidmet haben, »ist es unmöglich, einen Test zu entwerfen, der als ›culture free‹ oder zumindest als ›culture fair‹ bezeichnet werden kann.« 23
    Der IQ-Gemeinde hat das nicht zu denken gegeben – ganz im Gegenteil. Ein weiterer Experte, der neuseeländische Forscher James R. Flynn, hat 1987 eine aufsehenerregende Entdeckung gemacht. Er studierte die Testergebnisse, die verschiedene Populationen in den zurückliegenden sechzig Jahren erzielt haben, und stellte fest, daß sie sich in allen Ländern, für die es gesicherte Daten gibt, verbessert haben, und zwar um durchschnittlich drei Punkte pro Jahrzehnt und um fünf bis fünfundzwanzig Punkte in jeder Generation. 24 Die Gründe für diesen »Flynn-Effekt« haben die Gelehrten zum Grübeln gebracht. Vergrößerung des Schädeldaches? Höhere Komplexität der Zivilisation? Längere Schulbildung? Bessere Ernährung? Stärkere Mediennutzung? Fortschritte der Medizin?
    Auch hat es an Stimmen nicht gefehlt, die das offenbar unaufhaltsame Wachstum unserer Gehirnleistungen auf einen schlichten Feedback-Mechanismus zurückführen. Ihnen ist nämlich aufgefallen, daß die Probanden schon deshalb immer schlauer werden, weil jeder aufgeweckte Zwölfjährige heutzutage mit den Testroutinen vertraut ist, ebenso, wie der gewitzte Schüler seinen Lehrer studiert und ganz genau weiß, unter welchen Ticks und Marotten die

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