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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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blätterte im gelben Licht des Scheinwerfers in einer fast aktuellen Ausgabe der Stars and Stripes , die sie irgendwo im Fahrerhaus entdeckt hatte.
»Haben Sie etwas, womit ich mir die Hände ein wenig säubern kann?«, fragte Tubber. Einer der Kanister war nicht völlig dicht gewesen, und nun waren seine Finger mit Dieselöl verschmiert.
»Nehmen Sie das hier«, erwiderte Greta bissig und gab ihm die amerikanische Truppenzeitung. »So erfüllt's wenigstens einen Zweck.«
Schon wollte Tubber sich mit dem Papier die Hände abwischen, als ihm ein kurzer Artikel auffiel, der sich auf der ersten Seite befand, etwas verschämt an den unteren Rand gerückt. Australien in die Schranken gewiesen , lautete die Überschrift.
Er überflog den Text und durchschaute sofort, dass das, was hier als ein Sieg der Vereinigten Staaten verkauft wurde, in Wahrheit ein Triumph ihrer australischen Gegenspieler war. Diese hatten dem US-Kreuzer USS Los Angeles ein Seegefecht geliefert und erreicht, dass Washington ihre Hoheitsansprüche auf die umstrittenen Gebiete des Pazifiks zähneknirschend billigte. Die offizielle amerikanische Darstellung wollte nun vorspiegeln, man habe die Republik Australien gezwungen, die ihr gesetzten Grenzen zu akzeptieren. Tatsächlich aber hatten die Australier den allmächtigen USA Zugeständnisse abgetrotzt, ja mehr noch: Das abtrünnige Stück Empire am anderen Ende der Welt war durch dieses Abkommen indirekt als souveräner Staat anerkannt. Einen größeren Erfolg hätten sich die Australier nicht wünschen können.
»Bewundernswert«, murmelte Tubber und wischte sich die Hände sauber.
Chantal schnippte die Zigarettenkippe in die Dunkelheit. »Was meinen Sie?«
»Den Mut der Australier. Abtrünnige oder nicht, sie haben sich Amerika entgegengestellt.« Tubber warf die verschmutzte Zeitung fort. »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich dorthin gehen.«
Doch ihm war nur zu bewusst, dass er diese Wahl nicht hatte und nie haben würde.
Alleine die falschen Papiere, die man in jedem Fall brauchte, um eine Passage von Lissabon aus antreten zu können, hätten ein Vermögen gekostet. Aber er hatte schon kaum einen überzähligen Shilling besessen, als sein Leben noch in geordneten Bahnen verlaufen war. Daran hatte ihn der beschämende amerikanische Militärmantel, den er gezwungenermaßen trug, Tag um Tag mitleidlos erinnert. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, am folgenden Mittag die Nazis aufzuhalten, blieb er doch an den verfaulenden Kontinent Europa gefesselt. Es gab kein Entrinnen. Nie zuvor war ihm der verhasste Mantel so schwer vorgekommen wie jetzt.
»Ich wäre auch lieber anderswo«, meinte Greta bedrückt. Ihr Blick wanderte die Ruinen entlang, die ringsum die Straße säumten. Im gefrorenen silbrigen Licht des Mondes wirkten sie flach, absurde Kulissen vor einem kristallklaren Nachthimmel.
Halle war eine steinerne Leiche, mehr noch als Hamburg oder sogar Berlin. Keine Spur von Leben schien in diesem skelettierten Torso einer Stadt zurückgeblieben zu sein.
Greta seufzte leise. Ihr Atem stieg als bauschige weiße Wolke in die kalte Luft.
»Eigentlich wäre ich überall lieber als hier. Dieses Land ist so furchterregend ... wesenlos. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber es ist, als würde hier nichts wirklich bestehen, weil nichts einen Namen hat. Keine Namen, nur Bezeichnungen.
Statt Geld nur Währungseinheiten, statt Polizei nur Ordnungsdienst, und das Land selbst ... Bund Deutscher Länder. Nicht einmal Deutschland. Nur ein eigentlich namenloses Gebilde. Diese Namenlosigkeit ist, als würde man allem die Existenz verweigern und zu einem Dasein als schattenhafte Illusionen verurteilen.«
Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie diese Gedanken vertreiben. »Entschuldigen Sie mein Gerede, John. Das muss sich fürchterlich wirr angehört haben.«
»Ganz und gar nicht«, versicherte Tubber. Er konnte ihre Empfindungen gut nachvollziehen oder glaubte wenigstens, es zu können. Chantal erhob sich und strich sich den Uniformrock glatt. »Die Natur ruft. Ich bin gleich zurück.« Sie ging auf die Häuserreste am Straßenrand zu, wo verwinkelte Mauerreste Sichtschutz boten.
»Aber beeil dich«, rief Greta ihr hinterher. »Wir fahren sicher gleich weiter.«
Tubber schaute ihr kurz nach, bis sie zwischen den verrußten Ruinen verschwand.
Dann zog er aus der Manteltasche eine der durchgeschüttelten Flaschen mit lappigem amerikanischem Bier, von denen im Lastwagen reichlich vorhanden waren, und suchte eine

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